Donnerstag, 5. November 2009

Dietmar Dath: Sämmtliche Gedichte

Von Manuel Karasek
In den letzten Jahren wurde kein deutschsprachiger Autor so gründlich missverstanden wie Dietmar Dath – wobei das Missverstehen die Eigenschaft hatte, in zwei unterschiedliche Richtungen auszuschlagen. In die kritischen Reaktionen mischte sich entweder schlechte Laune u. a. wegen der eigenwilligen, beinahe hybriden Auffassung von Prosa, die sich in den Texten von Dath manifestiert. Oder das Weltbild des Autors mit seinem eigenbrötlerisch wirkenden Marxismus befremdete. Man kann dieses Missverstehen dann aber auch über eine Dialektik zu fassen kriegen, die sich von seinen zahlreichen Romanen und Essays ableiten lässt. Vereinfacht ausgedrückt: Dath möchte missverstanden werden. Und genauso ist er ein Denker mit deutlichem Hang zur Pointierung, was wiederum heißt, dass es hier nichts misszuverstehen gibt.
Es passt dann eben auch, dass Dietmar Dath in seinem neuen Buch als Nebenfigur auftaucht – als Berater und Medienspezialist eines märchenhaft reichen Mannes, der Colin Kreuzer heißt und schon in einem anderen Roman Daths eine tragende Rolle spielte. Dass gerade die Hauptfigur Adam Sladek, ein Dichter, das Werk Daths schließlich gering schätzt, wäre in einer Ironie freien Lesart der gebrochene Kommentar zur Kritik. Aber selbst die Ironie kommt viel feiner daher als man zuerst annimmt. „Sämmtliche Gedichte“ heißt der 280 Seiten lange Roman, wobei das neutral wirkende Eigenschaftswort absichtlich mit einem „m“ mehr versehen wurde.
So schrieb man den Begriff im 18. Jahrhundert, erinnert Dath einmal den Lyriker Sladek, der eine Einladung des mysteriös-düsteren Moguls Kreuzer angenommen hat; und nun ein großzügiges Angebot erhält: Ein Buch mit seinen Gedichten soll unter diesem Titel publiziert werden, zusätzlich erhält der Verfasser ein größenwahnsinniges Honorar. Was auffällt dabei: Sobald Dath seinen Auftritt hat, nimmt man Adam Sladek stärker wahr. Das hat letztendlich mit den gegensätzlichen Persönlichkeiten zu tun: Dath ist kompliziert und verschwurbelt, Sladek klar und präzise. Der eine hat einen pessimistischen Zug, wenn es um einen Zukunftsentwurf geht, der andere verfügt über ein emphatisches Utopieverständnis. Der eine steht im Schatten, der andere im Lichtkegel der Scheinwerfer.
Auf der Oberfläche einer reinen Handlung geht es in Dietmar Daths Roman um einen Mann, zu dessen Selbstverständnis größtmögliche Unabhängigkeit im Geistigen gehört, der sich weder den Massen noch den Eliten zugehörig fühlt; und der von einer Gestalt, dessen Umrisse klar die Konturen der James-Bond-Gegenspieler aufweisen, ein unmoralisches Angebot erhält. Was gleich bedeutend ist mit einer Gefährdung jener Unabhängigkeit.
Unter dieser Ebene beschäftigt sich Dath jedoch vor allem mit klassischen Formaten antiker Lyrik – und verfasst diese über seinen „Stellvertreter“ Sladek. Die klingen dann beispielsweise so: „Ich danke dir, die du kretische Amnisos-Ebene/ die du den Diktynna-Berge umschreitest.“ Oder ein anderes Beispiel geht schließlich so: „Als Aphrodite bin ich, was den kühnen Traum/ Von Zauber angeht, den ich, wo ich gehe/ Um mich verbreite, so wie Duft im Raum/ Leicht schwebt und gaukelt.“
Das muss den einen oder anderen erstmal vollkommen erstaunen. Warum in Gottes Namen brauchen wir denn jetzt die Anrufung der alten Götter? Das war doch eher Schillers Spezialität – und die hat die Gebrüder Schlegel manchmal zu Lachanfällen bewegt. Hier ist das aber anders. Diese Gedichte sind – vor allem wenn man sich allmählich eingelesen hat - tatsächlich beeindruckend in ihrer Schönheit, weil unter anderem durch sie ein Grundgedanke lyrischer Konzeption durchscheint.
Denn die Zugriffe auf die polytheistische Welt von Apollo und Artemis begreift Sladek nicht als poetische Leerformel, die dann auf Hölderlin und Ovid zurück verweisen, sondern als klare, präzise utopische Formeln einer freien und unabhängigen Lebensgestaltung. Seine Verse sind also indirekt soziopolitisch determiniert, das Anliegen jedoch von keinerlei idealistischer Programmatik verbogen. Bestechend daran ist eben auch, dass über Sladeks Lyrik der Charakter beispielsweise der vorwiegend idealistischen Poesie des ausgehenden 18. Jahrhunderts sichtbar wird – ohne dass hier hohle pathetische Gesten erneut zelebriert werden.
Dath behandelt über die poetische Rekonstruktion des Antiken im Lichte der Jetzt-Zeit letztendlich die alte, prekäre Frage nach dem übergreifenden Sinn ästhetischer Konzepte. Das alles hat schließlich auch einen polemischen Anteil. Wenn - so impliziert der Text - ein so steinreicher Mann wie Colin Kreuzer nach Belieben alles einkaufen kann, was ihm in dem Sinn kommt, dann muss das erworbene poetische Produkt von Adam Sladek unter dem Druck einer scharfen Instrumentalisierung geraten – und so der konstitutionell wirkende Unabhängigkeitsanteil daran fragwürdig werden.
Unter belletristischen, konservativen Gesichtspunkten ist „Sämmtliche Gedichte“ natürlich ein sperriges Werk. Was soll man anderes sagen? Seine Spannung bezieht es jedoch über die Dreieckskonfrontation Dath, Sladek und Kreuzer. Wobei man dann wieder beim scheinbaren Nichtbegreifenkönnen des Werkes von Dath wäre. Und der Dialektik.Und der Unauflösbarkeit davon.

Dietmar Dath: Sämmtliche Gedichte. Roman. Suhrkamp 2009. 284 Seiten. 22,80 Euro

Dienstag, 25. August 2009

Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch

Von Manuel Karasek
Grimmmelshausens Roman "Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch" ist ein ungelesener Klassiker. Jede Bibliothek in Deutschland verfügt über ein Exemplar, jeder gebildete Mensch hierzulande weiß, worum es in diesem dicken und alten Buch geht, aber gelesen hat es kaum einer. Grimmelshausen Roman ist der berühmteste deutsche Staubfänger in den Regalen von Graz bis Flensburg.
Dabei war das 600 bis 700 Seiten schwere Werk zu seiner Zeit 1668/69 ein großer Erfolg. Als Volksbuch wurde es tituliert, zog Raubdrucke und literarische Imitatoren nach sich, die Grimmelshausens Geschichte um einen einfältig-schlauen Helden in bodenlos brutalisierten Kriegszeiten unzählige Male variierten. Liest man den "Simplicissimus" in der neuen Übertragung ins moderne Deutsch von Reinhard Kaiser heute, fällt schnell auf, was dieses Buch hauptsächlich ist: Ein Bestseller aus dem 17.Jahrhundert, mit allen Ingrendenzien versehen, die einen populären Text ausmachen.
Aber warum gibt es jetzt überhaupt eine 'Übersetzung'? Die Versepen aus dem späten 10. und frühen 11. Jahrhundert müssen in ein heutiges Deutsch übertragen werden, weil der Sprung vom Mittelhochdeutschen ins heutige Idiom zu groß ist. Bei Werken aus dem Barockzeitalter heißt es, sie seien - wenn auch mit Schwierigkeiten - nachvollziehbar. Das stimmt zwar, aber ein Blick auf die kritische Wahrnehmung der letzten 20-30 Jahre zeigt, dass Werke aus dem Barock - sei es Gryphius oder Grimmelshausen - nur von Liebhabern und Spezialisten gelesen werden. Und das ist auch ein Resultat des veränderten Sprachgebrauchs. So gibt also nun Reinhard Kaiser den Deutschen eines seiner ältesten Volksbücher zurück. Was natürlich zu der Frage führt: Brauchen wir das unbedingt?
Die Handlung offenbart im ersten Teil des Buches jedenfalls einige sehr interessante und spannende Aspekte. Einer davon ist, dass Grimmelshausen seine Geschichte aus der Perspektive eines Bauernjungen aus dem Speesart erzählt, der unvermittelt und plötzlich mit den Grauen des Dreißigjährigen Krieges konfrontiert wird. Gleich zu Beginn verliert der Held sein soziales Umfeld durch marodierende Soldaten, die den väterlichen Hof niederbrennen und die Eltern samt Personal meucheln oder verschleppen. Bedenkt man, dass Grimmelshausen 1622 geboren wurde und ähnliche Erfahrungen wie sein Protagonist durchmachen musste, so spürt man sofort, dass der zunächst namenlose Ich-Erzähler die Schicksale der Jahrgänge teilt, die während des "Deutschen Krieges" geboren wurden - und letztlich nichts anderes kannten als eine Welt in anarchischem Ausnahmezustand. Gerade die Konstruktion um einen nahezu beziehungslosen wie ortsungebundenen Jungen ohne gesichertes kulturelles Fundament verrät etwas über die Gründe der Beliebtheit eines fiktionalen Textes, der 20 Jahre nach dem Friedensschluss von Worms publiziert wurde.
Ein anderer interessanter Aspekt ist ein bestimmter Kniff, den Grimmelshausen in seine Handlung einbaut. Auf der Flucht vor den Marodeuren gerät der Held in die Arme eines Einsiedlers, der den Jungen aufnimmt, ihm erst einen Namen gibt - er nennt ihn Simplicius, weil er ihn für einfältig hält - und schließlich in die christliche Lehre unterweist. Die offenbart sich als betont erimitisches Weltbild, welches abseits konfessioneller Streitigkeiten liegt. Und die waren ja die ideologische Grundlage für den sich ewig dahinziehenden Krieg auf deutschem Boden. So konfrontiert der Autor seine Hauptfigur, sobald dieser ohne seinen geistigen Vater - den Einsiedler - in die Welt zieht, ständig mit gesellschaflich instabilen, prekären Verhältnissen; und kommentiert die aus dem Blickwinkel desjenigen, der über eine ethische Grundlage verfügt, die auf die Vorstellung eines Urchristentums baut, ergo wie eine reine Lehre wirken muss. Was sich dabei zeigt (und reizvoll auch daherkommt), ist eben die grotesk gefärbte Diskrepanz zwischen Lehre und Wirklichkeit. Grimmelshausen beschreibt mit leichter Hand die dünne Decke aus Behauptungen religiösen Inhalts, unter der die wahren Beweggründe des Kriegstreibens sichtbar werden: Profitgier, militärischer Ehrgeiz, politisches Kalkül, Eitelkeit und andere Besessenheiten halten den Kessel warm.
Die Darstellung dieses Krieges auf den ersten 250 Seiten ist das bestechende Merkmal des Romans, auch weil es Grimmelshausen gelingt, anhand eines exemplarischen Falles zu zeigen, wie der Krieg zur sozioökonomischen Halsschlagader im deutschen Gesellschaftskörper des 17. Jahrhunderts wird. Simpliucius dient als Knecht, Knappe, Narr oder Lautenspieler verschiedenen Offizieren, wird dann später- als er seine Volljährigkeit erreicht - selber Soldat, wobei er sich aufgrund seiner Guerillamentaliät rasch einen Namen macht, und versieht seinen Dienst schließlich abwechselnd in den kaiserlichen oder schwedischen Truppen. Man hat gerade solche Passagen immer wieder als modern und zeitlos bezeichnet. Und tatsächlich gewinnt man als Leser das untrügliche Gefühl, über die Heldengeschichte hinaus den Grundriss eines Gesellschaftssystems zu erblicken, deren Ordnungsprinzipien sich aus einer endlosen Reihe von Scharmützeln und Schlachten mit hohem Opferanteil zusammensetzten. Und man begreift darüber hinaus, dass der "Deutsche Krieg" von 1618 bis 1648 für die nachfolgenden Generationen das Ereignis war, an dem man sich selbst als Individuum mit historischem Bewusstsein reflektierte. Der Erfolg von Grimmelshausens Buch ist auch ein Resultat eines vertikalen Geschichtsverständnisses. Bis ins späte 18. Jahrhundert kann man die Spuren dieses Denkens verfolgen, bis in die Weimarer Klassik, in der Schiller und Goethe die barbarische Aggression im Kollektiv des 17. jahrhunderts für überwunden erklärten. Insofern lesen wir das Buch ähnlich, auch weil Reinhard Kaisers gelungene Übertragung unabsichtlich eine bestimmte Nähe produziert: Unsere heutige Geschichtsauffassung beeinflusst nämlich unweigerlich die Wahrnehmung des Textes. Auch uns dient die Geschichte als Erklärung für die heutige Zeit. Und unser Lieblingsbeispiel ist der Zweite Weltkrieg. Den klopfen wir immer wieder auf sein pädagogisches Potential ab.
Das ist alles zweifelsohne und unbedingt interessant. Und das alles wird man Reinhard Kaiser hoch anrechnen. Es verdeckt jedoch, dass Grimmelshausen alles andere als begnadeter Autor gewesen ist. Im Vergleich mit Dichtern seiner Zeit wie beispielsweise Corneille, Racine oder Milton erweisen sich seine sprachlichen, formaltechnischen und dramaturgischen Fähigkeiten als eher kümmerlich. Zum Problem seines "Simplicissimus" wird die durchgehend beibehaltene episodische Struktur, die nie eine Auflösung kennt. Anekdote auf Anekdote folgt. Schon die Kritik der 1670er Jahre sprach von einem "werklichen Mischmasch" und monierte das "zusammengestickelte". Und auch die Romantiker kritisierten an Grimmelshausens Erzählkonzept das Auslaufen in unendliche Schnurren. Zwar ist unübersehbar der schöne Nebeneffekt, dass Grimmelshausen ebenfalls die Geschichte eines opportunistischen Aufsteigers aus niedrigen Verhältnissen erzählt, aber bei der Darstellung der einzelnen Stationen der Karriere Simplicius' verliert der Autor den Blick für die Wechselwirkungen zwischen Protagonist und Umfeld, weicht ins Phantastische aus. Seine Geschichte wird gewöhnlich und langweilig. So findet Glückspilz Simplicius einmal einen sagenhaften Schatz auf einem verlassenen Hof, der ihn im Nu einige soziale Stufen hinaufbefördert. Oder ein andermal fährt der schlaue Simpel nach Paris und wird dort prompt zum Theaterstar. Und weil er Laute spielt und singt, glaubt man in diesen Szenen der Geschichte eines barocken Schlagersängers zu folgen, der alle Frauen von Paris kriegt. In dieser tollen Hechtsuppe ertrinkt das dramaturgische Konzept schließlich. Allerdings bemerkt man gerade durch die schwachen Stellen, dass hier der Stoff - nämlich die Thematisierung des Krieges - für die Größe des Autors verantwortlich ist. Als dieser sein narratives Pulver verschossen hat, bleibt wenig an Substanz übrig.

Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch. Zwei Bände. Mit Anmerkungen circa 750 Seiten. In einer Kassette. Eichborn - Andere Bibliothek 2009. 69 Euro

Sonntag, 14. Juni 2009

Daniel Kehlmann: Ruhm

Von Manuel Karasek

Ein älterer und ein junger Schriftsteller, die einmal gemeinsam im Berlin der frühen 30er Jahre vor überwiegend russischen Emigranten lesen. Und nach der Lesung wird der ältere über den jungen sagen, dieser habe ein Gewehr genommen, gezielt und abgedrückt. Ein drastisches Bild, das Bunin als Charakterisierung der soeben vernommenen Prosa von Vladimir Nabokov gebrauchte – und eine Anekdote, die manchmal Verwendung im Zusammenhang mit strukturellen Merkmalen nabokovscher Texte fand. Sie sollte auch einen frühen Moment der Postmoderne festhalten. Das Spiel mit dem auktorialen Erzähler, dem Handlungsverlauf und den Figuren, die gemeinsam mit ihren Lesern in Spiegelkabinette oder in die gähnende Leere von Falltüren treten. Allerlei illusionistische Tricks, doppelte Böden, Täuschungsmanöver, die das lineare Erzählen des 19. Jahrhundert aufgebrochen haben - das war es wohl, was Bunin als Vertreter einer älteren Generation mit dem Vergleich gemeint hatte. Das ist alles lange her.
In Daniel Kehlmanns neuem Roman „Ruhm“ steckt sich in einer Szene ein brasilianischer Verfasser weltweit verbreiteten Ratgeberschwulstes - der auch noch einen wunderschön kitschigen Namen trägt: Miguel Auristos Blanco - an einem herrlichen Morgen den Pistolenlauf in den Mund. Ob er in der nächsten Sekunde abdrücken oder auf den Selbsttötungsversuch verzichten wird, das wird dem Leser nicht verraten, weil (A) zum Prinzip dieses Romans Geschichten mit offenen Enden gehören und weil (B) eine Auflösung des Erzählschlusses die zentrale Idee des Buches unterwandert hätte. Man muss verstehen, was an Daniel Kehlmanns jüngstem Werk großartig wie gleichermaßen amüsant ist. Nämlich dass es mit aller Deutlichkeit dahingehend konzipiert ist, dass es die Kritik, die beim Erscheinen des Buches laut werden würde, regelrecht auf unterschiedlichen Metaebenen antizipiert.
Wie ist der Autor da vorgegangen? Wie hat er sein Material verarbeitet? Natürlich erinnert der in einer Penthousesuite hausende Blanco an den brasilianischen Kuschelliteraten Coelho – und nicht an Daniel Kehlmann. Und natürlich ist der satirische Einschlag in der Beschreibung eines megaerfolgreichen Autors, der aufgrund eines einzigen und aufrichtig religiös gefärbten Leserbriefes seine vermurmelten Weltweisheiten plötzlich für ein inakzeptables Lügengebäude hält, nicht zu überlesen. Aber das Bild spricht gar nicht zu Coelho, es will ihn nicht mal angreifen.
Kehlmann entwirft eher ein chiffriertes Bild, das im Zusammenhang mit der öffentlichen Debatte um sein Werk in den letzten Jahren steht; und in der - entweder offen oder zwischen den Zeilen – gerade wegen des großen Erfolgs an seiner literarischen Potenz gezweifelt wurde. Denn die Pistole, die sich Blanco in den Mund steckt, richtet sich im Gesamtkontext des Romans auf die Erwartungen des Kommentars. Und die anderen Geschichten sind - um im Bild zu bleiben – seine Munition. Jede Erzählung funkelt virtuos und von einer an Nabokov erinnernden Schlauheit aufgeladen auf seine Weise.
Der lineare Erzählverlauf funktioniert dann folgendermaßen: Da gibt es den neurotischen Schriftsteller Leo Richter, der bei einer Lesereise durch Südamerika immer die selben Fragen vom Publikum gestellt bekommt. Ein paar Kapitel später sieht man die Krimiautorin Maria Rubinstein in ein fernöstliches Land fahren, wo sie den Kontakt mit ihrer Reisegruppe verliert - und schließlich hoffnungslos durch die Fremde geistert. Zwischendurch hat der Leser Bekanntschaft mit der todkranken Lara Gaspard gemacht, die ihre letzte Reise nach Zürich zu einer Sterbehilfe-Klinik antritt.
Die Falltüren und Spiegelkabinette, die Kehlmann geschickt in den Textkorpus baut, sind dann beispielsweise diese: Leo Richter bittet per Handy sein Management darum, anstatt seiner Maria Rubinstein die lästige Einladung annehmen zu lassen. Lara Gaspard ist die Figur einer bekannten Erzählung von dem selben Schriftsteller – und wenn sie Gott in ihrer Verzweiflung darum bittet, sie weiterleben zu lassen, wendet sie sich just an den Autor mit den Namen Leo Richter. Und auf den Flughäfen liegen zum Verkauf die Bücher Blancos. Es gibt lauter solcher verstreuter Motive, die eindeutig zum Ensemble des Virtuosen beitragen.
Mit dieser Methode bedient Kehlmann nicht nur das Publikum, sondern auch einen konservativen Diskurs, denn er verortet sich selbst und seine ästhetische Weltanschauung in einem postmodernen Traditionsverständnis, das über Nabokov und Borges bis hin zu Vargas Llosa und Paul Auster reicht. Als Effekthascherei eines literarischen Enkels sollte man das allerdings nicht verstehen, gerade weil man nach „Ruhm“ spätestens weiß: Der Mann kann gut zielen.

Daniel Kehlmann: Ruhm. Ein Roman in neun Geschichten. 200 Seiten. Rowohlt. 2009 Reinbek. 18,90 E

Sonntag, 31. Mai 2009

Dietmar Dath: Die salzweißen Augen

Von Manuel Karasek

Pornographie ist eigentlich ein dankbares Thema für einen grundlegenden Diskurs. Doch die tauglichen Publikationen dazu haben mehr oder weniger Seltenheitswert. Eines der Kapitel in Dietmar Daths 2005 erschienenem Buch „Die salzweißen Augen“ ist überschrieben mit „Brief über die Pornographie und Verträge“ - und auch sonst geht es hier um eindeutiges Material. Der bemerkenswerte zentrale Denkmoment im Text hat schließlich mehr als die Gestalt einer These aus dem Geiste der Behauptung; die Beweisführung verfügt über etwas Zwingendes nahe an der Empirie. Dietmar Dath, geboren 1971 und ehemals redaktionell tätig in der Spex und im Feuilleton der FAZ, sieht Produkte der pornographischen Industrie abseits des belustigten, aus der Richtung Boulevard und Comedian schlagenden Blicks. Für den Autor sind Hardcore-Produktionen vor allem Ausdruck einer gesamtgesellschaftlichen Kapitulation vor dem Erbe der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Verkürzt dargestellt lautet seine Kernthese: Pornographie - und auch andere Produkte der Kulturindustrie wie Splatter-Movies, Horrorromane und Heavy-Metal-Musik – ist (sind) die ästhetische Reaktion auf ein gescheitertes Gleichheits- und Freiheitspostulat.
Die Verknüpfung zu 1789 mit einem Aspekt der modernen Kulturindustrie ist natürlich erläuterungsbedürftig. Sie lässt sich zunächst über die antiquiert wirkende Form des Werkes beantworten. Die Nähe zum 18. Jahrhundert sucht (und findet) Dath - der schriftstellerisch rasend und rasch seine Erzeugnisse in die merkwürdig langsame Welt katapultiert – in dem alten Format des Briefromans, den ein junger Mann von etwa 30 Jahren (David) einer ehemaligen, angebeteten Schulfreundin (Sonja) schreibt. Es gibt einen narrativen Zweig, der die Geschichte vom Aussteiger Paul erzählt, der sich in „einem Kuhdorf“ in eine scheinbar debile, dafür aber umso schönere "Bauerntochter" verliebt – einen Strang, den Dath in seinem zwei Jahre später publizierten Roman „Dirac“ weiterspinnt.
Auch der Untertitel des knapp 200seitigen Romans („Briefe über Drastik und Deutlichkeit“) schließt an diese Verknüpfung an und verweist auf die Terminologie. So fasst der fiktive Verfasser ein Teil der populären Kultur – Porno, Horror etc. / und Elemente davon, die beispielsweise in Hollywoodfilmen oder in der Fernsehkultur zirkulieren - über den Begriff „Drastik“ – eine brillante Begriffswahl in einem groß angelegten Essay; der eine Dynamik und Energie aufzuweisen hat, die die Hintergrundgeschichte um David, Sonja und Paul im Vergleich substantiell ein wenig dünn wirken lässt.
Dass hier aber - oberflächlich gesehen - die Kombination von Vorstellungskraft und Theorie scheinbar nicht gelingt – die Liebesgeschichten von David und Paul haben einen zu flachen Atem, mag man monieren - , hat einen skurrilen Reiz. Den begreift man über die vom Autor gelegten Pfade: narrative Umwege, Sackgassen, Einbahnstrassen im Dienste theoretischer Erörterungen. Denn Dath erzählt zwar nicht die Geschichte von Hölderlin, Fichte und Hegel, die als junge Gymnasiasten im Herbst 1789 im Schwabenlande gemeinsam einen Baum als Symbol für ihre Hoffnungen, die sie in die französische Revolution setzten, pflanzten. Und er berichtet auch nicht von der Wende 1989, die mit den Abiturprüfungen der Protagonisten zusammenfallen müsste. Aber er macht deutlich, dass Paul und David ähnliche Setzlinge in ihren weltanschaulichen Boden setzen; und was dann sprießt, sieht im Ergebnis bizarr aus: Daths Text ist nämlich die Beschreibung aus einem intellektuellen Baumhaus heraus, dass das Blühen einer monströsen, Fleisch fressenden Pflanze beobachtet: Es handelt sich um den verbogenen Zugriff der Moderne auf alte zentrale Ideen der Aufklärung. Das ist Daths Thema.
Interessant wird sein Diskurs um Sex und Horrorundergroundkultur schließlich, wenn man ihn in drei Teile bricht. Der erste - der textnaheste - Aspekt kreist um den Befund eines ehemals postulierten Gleichheitsprinzips, an den die jetzige Moderne nicht mehr glauben kann. Wenn beispielsweise die Attribute der 68er von der Befreiung des Sexes letztendlich nur in der Warenwelt der Porno-Industrie zu finden sind, heißt das - so Dath, dass die Menschen nicht im gleichen Maße und in freier Weise über ihr Verlangen und deren Befriedigung verfügen. Im Gegenteil: Sie entpolitisieren die Sehnsüchte als Konsumenten von Pornografie. Und weiter bedeutet das, dass sie nicht mehr daran glauben, dass Forderungen in einer solchen Richtung überhaupt etwas bringen. Sie wissen um die unwiderlegbare Kopplung von Sex und Kapital. Ähnlich lautet Daths Diagnose im Zusammenhang mit Splatter-Movies und Heavy-Metal-Musik.
Der zweite Aspekt wird interessant durch das Hintergrundrauschen der Debatte, die Houellebecqs Romane vor zehn Jahren auslösten – die Dath nirgendwo zitiert, aber auch nicht zu erwähnen braucht (man kommt von selbst drauf). Das Fehlschlagen der sexuellen Revolution von 1968 bedeutete – wir erinnern uns - für Houellebecqs Romanfiguren vor allem zynischer Eskapismus, ein Arrangement mit den kapitalistischen Strukturen. Auf der einfachsten Metaebene liest sich das dann so: Dass der Mensch selbst eine so schöne Angelegenehieit wie die Liebe und den Sex von Grund auf hässlich gestaltet. Er schafft ergo nichts Schönes. Und für ein so missratenes Wesen gibt es kein Medikament. Dath entwirft zumindest die Umrisse eines Rezeptes, das man für fragwürdig oder bedenkenswert halten kann. Sicherlich setzt Dath (beziehungsweise seine Hauptfigur) den Freiheitsbegriff (der unmittelbar an ein schwer zu definierendes Gleichheitsverständnis anschließt) absolut, ohne diesen von seinen eigenen Künstlerbedingungen zu lösen. Die Lösungsvorschläge bleiben insofern am Atavismus moderner Gesellschaften hängen. Das wäre eine Möglichkeit kritischer Erwiderung. Aber diese Art von Kritik übersieht dann gerne, dass der Charakter des Textes über sein scharfes kritisches Potential nicht hinausgehen kann, weil ein gesellschaftspolitischer Gesamtentwurf den Rahmen eines solchen Briefromans sprengen würde. Holt man zum großen Wurf aus, macht man eher etwas, dass beispielsweise an die große Systemkritik von Bourdieu oder Marx anschließt.
Der dritte Aspekt hängt mit den theoretischen Überlegungen selbst zusammen. Im systematischen Denken gibt es immer einen oder mehrere Augenblicke, in dem sich dieses von seinen Gegenstand löst. Aus Entwurf wird Emphase. Die anfängliche Schwerfälligkeit der Konzeption bekommt plötzlich und unerwartet eine Raum erobernde Schwerelosigkeit. Das Attraktive an Daths Briefroman ist gerade dieses sich in die Höhe schwingen - oder anders ausgedrückt: Seine unbedingte Anteilnahme am Stoff. Nüchterner dargestellt kann man das Gelingen des Werkes auch in dem Umstand finden, dass Theorien über popkulturelle Phänomene eine schwere Übung darstellen - und Dath die Aufgabe glänzend löst. Thomas Groß, der exzellente Kritiker von Popmusik (ehemals taz, dann in der Zeit), hat in dem Vorwort zu „Berliner Barock“ mal geschrieben, seine Arbeit gleiche oftmals der Kaffeesatzleserei. Natürlich ist das eine beabsichtigte Unschärfe. Daths Buch jedenfalls gelingt es, eine Schneise durch schwieriges Material zu schlagen – um am Ende glaubt man nicht nur eine Lichtung zu sehen, sondern eine Siedlung.
Dennoch bleibt man auch ein wenig skeptisch, weil dieses Denken frontale idealistische Züge trägt, wenig Anteile an Pragmatismus. So jedenfalls die Kritik in der NZZ vor drei Jahren. Jedoch: Das Fehlen von Ironie (oder Selbstironie) kann man Dath eigentlich nicht vorwerfen.

Dietmar Dath: Die salzweißen Augen. Vierzehn Briefe über Drastik und Deutlichkeit. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005. 19, 80 Euro

Freitag, 1. Mai 2009

Chaim Noll: Der goldene Löffel

Von Manuel Karasek

Zwanzig Jahre ist es her, seitdem der antifaschistische Schutzwall fiel, die betongraue Gefängniswand der DDR. Nur wenige Jahre später folgten die literarischen Insiderberichte der vorwiegend jungen (und letzten) Generation des ehemaligen deutschen Arbeiter- und Bauernstaates. Die Literaturkritik erwartete in jenen Jahren viel von diesen Schreibern, eigentlich viel zu viel. Lustiges gab es schließlich von Brussig, episches von Jirgl, Schulze, Havemann und Tellkamp: Türme der Erinnerungen.
Chaim Nolls Roman „Der goldene Löffel“ erschien im Frühjahr 89, in der BRD - und wurde wenig beachtet. Gleichwohl das Buch die späten Siebziger Jahre in Ost-Berlin thematisiert, ist es ein Text über die Wendezeit – gerade weil der Roman die ständige gesellschaftliche Agonie der DDR auf gerade mal knapp 250 Seiten auf den Punkt bringt. Adam heißt der Ich-Erzähler in der jetzt beim Verbrecher Verlag erschienenen Neuauflage. Noll lässt ihn die Geschichte eines jungen Mannes aus privilegierten Verhältnissen erzählen, der Kunst studiert, sich in eine verheiratete Frau verliebt und schließlich die gestanzte Karriere als Parteimitglied aufgibt. Das scheinbar Unaufregende und Beispielhafte dieses Werdegangs und die schier unglaublich giftige Öde in solchen DDR-Biographien: Man meint all dies zu kennen, stellt aber schnell fest, dass es Noll schafft, diese Elemente in aufregende Motive zurück zu verwandeln.
Das hängt unter anderem mit der knappen Darstellung zusammen. Allein für die Beschreibung der Beziehung Adams zu seinem Vater benötigt Noll nur wenige Seiten. Auf diesen gelingt es ihm allerdings, komplexe Vorgänge klar und spannend zu schildern. Der Vater - ein renommierter Soziologe – verteidigt bei einem Disput den gesellschaftspolitischen Entwurf der DDR, ist aber innerlich längst ausgebrannt von der zermürbenden Trägheit und intriganten Atmosphäre der Apparate. Der Sohn durchschaut die Strategien im Dienste komplizierter Leugnungen, die die gegenseitige Befremdung jedoch verstärken.
Es gibt mehrere solcher Schlüsselszenen im Roman, in denen Noll die Beziehungsmuster im Alltagskontext der DDR beschreibt. Ihre Anziehungskraft beziehen sie auch aus der Leichtigkeit, mit der der Autor ein Paradigma der späten DDR herausarbeitet: Die ungeheure Mühe, die es der Vätergeneration gekostet hat, das sozialistische Modell auf die Beine zu stellen; und die unausgesprochene Scham vor den Jüngeren, weil offensichtlich ist, dass das ganze Konzept kurz vor dem Scheitern steht.
Ein immer wiederkehrendes Motiv in „Der goldene Löffel“ ist die brüchige Selbstgefälligkeit der Älteren, ihr Nachdruck, mit der sie ständig ihren Erfahrungs- und Wissensvorsprung vor dem jugendlichen Ich-Erzähler zum Besten geben. In Wahrheit – und das durchschaut Noll klug – entrollt sich da eher ein absurdes Abhängigkeitsverhältnis, weil nach Außen hin die DDR sich als Staat der Arbeiter und Bauern präsentiert, im Innern jedoch dynastisch gegliedert ist. Besonders deutlich zeigt sich dieses Verhältnis der verschobenen Kräfte in den Gesprächen, die Adam mit dem Kunstprofessor Knoch führt - der vielleicht am stärksten ausgeleuchteten Figur im Roman. Man verfolgt mit Unbehagen seine Monologe.
Doch man ist wie Adam einem berlinernden Besserwisser voller Ressentiments ausgesetzt, der nicht aufhören kann, darauf hinzuweisen, wie er als unterprivilegiertes Arbeiterkind sich hat hocharbeiten müssen – und der dabei nicht vergisst, den Ich-Erzähler daran zu erinnern, dass den jungen Burschen heute alles in den Schoß gelegt wird. Adam ist in den Augen der Älteren ein Kronprinz. In seiner Perspektive hat diese Rolle aber etwas Pervertiertes. Er ist ein Hamlet, dem sogar kurzfristig Rebellion zugestanden wird, der dann allmählich die immer stärker werdenden institutionellen Kastrationskräfte zu spüren bekommt. Diese komplexen Vorgänge schildert Noll mit einem schwarzen Charme. Und er hält sich mit Deutungen zurück, was zur Folge hat, dass die sparsam dosierten Beschreibungen die verrosteten Herrschaftsverhältnisse viel schärfer einfangen als lange Erklärungen oder komplizierte Introspektiven.
Das sind einige Gründe, warum dieser zwanzig Jahre alte Roman heute noch so gut funktioniert. Aber da sind noch ein paar mehr. Zum einen begreift der Autor den Werdegang seiner Hauptfigur als Negativ eines Bildungsromans. Das Schauspiel vom Weg des jungen Menschen ins soziale Zentrum oder Abseits kann in einer Gesellschaft, die mehrheitlich keinen positiven Bezug zum eigenen Land findet, nicht stattfinden. Wo alles stagniert, lebt es sich wie in einer Fotografie.
Zum anderen verfügt Noll im Gegensatz zu Uwe Tellkamp oder Ingo Schulze über ein sicheres dramaturgisches Gespür. Statt literarischer Abarbeitung, die achthundert Seiten in Anspruch nimmt, hat man hier ein vor allem lesenswertes Buch vor sich, dem es gelingt, mehrere Aspekte des Dramas DDR darzustellen.

Chaim Noll: Der goldene Löffel. Roman. 246 Seiten. Verbrecher Verlag. Berlin 2009. 13 €

Dienstag, 14. April 2009

Philipp Blom: Der taumelnde Kontinent

Von Manuel Karasek
Es liegt nahe, dass ein Buch, welches sich mit der unmittelbaren Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges beschäftigt, momentan Interesse weckt. Das hundertjährige Gedenken an die 'Mutter aller Katastrophen im 20. Jahrhundert' - wie Golo Mann einst den Krieg charakterisierte - liegt lediglich fünf Jahre vor uns. Philipp Blom - der in den letzten Jahren nicht allein als Historiker hervortrat, sondern ebenfalls als Verfasser fiktiver Werke - nennt sein jetzt auf Deutsch erschienenes Buch "Der taumelnde Kontinent", was schon ein wundervoller und dramatischer Titel ist, der allerdings ein wenig in die Irre führt.
Denn Blom, 1970 geboren, beschreibt die einzelnen 15 Jahre Vorkriegszeit - weswegen das Buch auch den Untertitel "Europa 1900-1914" trägt - nicht im Zeichen des Menetekel, sucht für seine Darstellung nicht die tragisch-attische Bühnenordnung. Er geht subtiler vor, entsprechend erscheint seine Methode. Die knapp 500 Seiten bieten 15 Kapitel - jedes davon widmet sich einem Jahr und einem Themenschwerpunkt. Das Eingangskapitel, das das Jahr 1900 thematisiert, widmet sich beispielsweise der Weltausstellung in Paris; und ist eine schöne Schilderung einer hegemonialen, vorwiegend europäischen Selbstdarstellung. Blom steht herrliches Material zur Verfügung, um die demonstrierte imperiale Prachtentfaltung zu beschreiben; und auch sein Befund hat etwas überzeugend Klares, wenn er die tiefen Unsicherheitsgefühle der Zeit umreißt als ein Ergebnis der enormen Geschwindigkeit in der industriellen Entwicklung und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen.
Mehrheitlich ist Bloms "Der taumelnde Kontinent" ein interessantes und anziehendes Porträt einer Epoche; jedoch hat das Buch auch seine Schwächen. Gerade letzteres ist ein Nebenprodukt der Methode. 1908 - so beginnt beispielsweise Kapitel 9 - gab es in London eine Demonstration mit einer halben Million Teilnehmer, die das Wahlrecht für Frauen forderten. Eine ausführliche Erzählung der frühen Frauenrechtbewegung folgt. Wieder setzt Philipp Blom sein reiches Material klug und geschickt ein, das selbst Gutinformierte überraschen wird. Wieder ist da eine vorwiegend narrativ-lineare Struktur zu erkennen, die die Geschichte der Suffragetten, wie die Frauenrechtlerinnen genannt wurden, gewinnend zu erzählen weiß. Doch gerade der lineare Verlauf gerät ein wenig in den Zustand einer trägen Masse. Es ist das Problem der zwingenden Abfolge, welches Blom erzählerisch nicht lösen kann. Das historische Material ist unbestritten attraktiv, aber auch riskant. Muss man, um ein anderes Beispiel zu nennen, die Geschichte der Marie Curie oder die Erfolgsstory Albert Einsteins, so interessant beide Lebensläufe auch sind, noch einmal derart entlang des Biographischen erzählt bekommen? Letztendlich unterwandert das Abzählen der Ereignisse gerade den Erzählprozess. Und das Absurde dabei ist: Blom unternimmt alles, um nicht in die Falle des chronologischen Erzählens hineinzugeraten. Der Autor kriegt nur manchmal sein reiches Material nicht anders in den Griff, als sich mit Redundanzen auszuhelfen.
Woran liegt das? Bloms Buch fehlt es nicht an einer Idee. Aber es fehlt ihm die Obsession, die von einer Idee ausgeht. Warum eine eigentlich hoch entwickelte Gesellschaft sich fast nur noch durch ein bis dahin ungekanntes Ausmaß an barbarischer Gewalt Ausdruck verschaffen konnte, ist ja nicht bloße Rhetorik, sondern die Nahtstelle auf einer alten Wunde, aus der der Schlangenkopf unseres ambivalenten Zivilisationsprozesses stets hervorzukriechen scheint. Wie weiß das Blom zu interpretieren?
Er entscheidet sich für folgende Leseart. Jedes Kapitel betont den Werteverlust in einer männerorientierten Gesellschaft, die aus dem patriarchalischen Geist entstanden war. Die Industrialiserung hat das männliche Rollenverständnis unterwandert, so Blom weiter, die Maschinen ersetzen die traditionellen Eigenschaften der Manneskraft, ja degradieren sie zu bloßen Muskelspielereien. Die starke Militarisierung der Gesellschaften ist dabei Ausdruck einer kollektiven Unsicherheit. Das ist eine ganz gute, nonchalant vorgetragene These, aber sie ist nicht ganz neu. So ist Bloms Buch zwar gut lesbar, aber es fehlt ihm von Zeit zu Zeit das Bezwingende.
Ein anderes Beispiel unterstreicht das Dilemma eines lesenswerten Textes. Blom beschreibt anschaulich und unterhaltsam, wie Kunstwerke von Picasso oder die Uraufführung von Strawinskys "Le Sacre du Printemps" heute schwer nachzuvollziehende Publikumsaufstände ausgelöst hatten - und deutet die Empörung als Ausdruck einer tiefen Unsicherheit, in der man den Fortschritt schon haben wollte, die Veränderungen, die dieser mit sich brachte, jedoch ablehnte. Gerade an der Kunstrezeption ließ sich dann die Problematik einer sich immer weiter der Technik verschreibenden Gesellschaft gut ablesen. Es gab eine Unauflösbarkeit der soziokulturellen Problemkomplexe und somit keine produktiven Annäherungen zwischen den einzelnen Positionen, die den technischen Fortschritt und die Forderungen einzelner Gruppen (Arbeiter, Frauen) vertraten. Das zeigt ja, dass es durchaus vorteilhaft gewesen wäre, wenn Blom mehr Deutungsmuster gesucht hätte, statt sich immer auf das Narrative zu verlassen.

Philipp Blom: Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914. 530 Seiten. 25,90 Euro.

Mittwoch, 18. März 2009

Michel Foucault: Schriften zur Literatur

Von Manuel Karasek

Ende der Achtziger erscheint das erste Mal auf Deutsch Michel Foucaults Essays über Literatur in einem Band, die dieser in den Sechziger Jahren geschrieben hat. In den Aufsätzen beschäftigt er sich erneut mit dem Phänomen des Verständnis’ von Wahnsinn unter Bezugnahme gesellschaftlicher Veränderungen und historischer Prozesse. Im Gegensatz zu seiner Arbeit „Wahnsinn und Gesellschaft“, die 1961 bei „Gallimard“ publiziert und mit der sein Verfasser bekannt wurde, rückt für Foucault in den folgenden Jahren eher die Perspektive prominenter Vertreter und ihr Übergang in die unendlichen Gefilde des Irrsinns in den Mittelpunkt.
Zwei berühmte Fälle erscheinen ihm da beispielhaft zu sein. Zum einen der Fall Rousseaus, dessen „Dialogues“, etwa nach den „Bekenntnissen“ 1770 geschrieben, überwiegend als das wirre Ergebnis eines von Verfolgungswahn gepeinigten Autors gedeutet wird – dagegen Foucault darin, ohne den pathologischen Anteil in Rousseaus Arbeit gänzlich zu leugnen, eher „die Struktur großer theoretischer Texte“ ausmacht: einen frühen und kühnen ontologisch-heideggerischen Entwurf zur Vorstellung und Begrifflichkeit von Existenz und Inexistenz. Und zum anderen den Fall Nietzsches, dessen Spätwerk – z. B. der 1888 geschriebene „Ecce Homo“ – Foucault nicht ausschließlich als Indiz der geistigen Zerrüttung des Philosophen gilt, sondern mehr als konsequente Umsetzung eines Denkens gelesen werden sollte, das seine eigene Grenze stets vorschiebt und dabei mit der Hypothese einer ‚Grenzüberschreitung’ in der Figur des ‚Undenkbaren’ spielt.
Was bei diesen Plädoyers für jene ‚Außenseiter’ schließlich ins Auge sticht, ist, dass Michel Foucault durch die gnostisch anmutende Auslegung der Texte den Umriss einer doktrinären Exegese entwirft. Aus seiner Sicht hat es immer einen philosophischen Mainstream gegeben, der dazu neigte, Rousseaus und Nietzsches letzte Arbeiten als deutliches Indiz für ihren Übertritt in ein Schattenreich zu interpretieren. Foucault begreift diese Deutungsmuster als diskriminierenden Beschreibungsversuch, als Negation von späten Theorieentwürfen. Natürlich steckt in seiner Methode ein unübersehbarer Anteil an Polemik, denn es wird ja nie auch nur ein Name eines der Vertreter des angeblich doktrinären Diskurses genannt.
Das endgültig geistige Aus jener Akteure – und die nachträgliche Belichtung, die beide Fälle als eine ins Frevlerische hineinreichende intellektuelle Unangepasstheit wertet und so zu dem Ergebnis gelangt, dass Rousseau und Nietzsche für ihre maßlos geistige ‚Entgrenztheit’ mit dem Irrsinn bezahlen mussten – diese bühnenwürdigen Abgänge sind für Foucault vielmehr interessant unter dem Aspekt der Annahme. Die Diagnose über jene ‚Endzustände’ wird dann als das Ergebnis einer eingeschränkten, ja oberflächlichen Sichtweise gewertet.
Interessant daran, ist schließlich aber gar nicht mal der herausdestillierte Herrschaftsbegriff in der kulturellen Produktion des 19. Jahrhunderts, den Michel Foucault in den 60ern analysierte. Interessant in dem Zusammenhang ist eher, dass etwa im selben Zeitraum die ersten Romane und Erzählungen Thomas Bernhards (Frost, Verstörung, Wittgensteins Neffe, Das Kalkwerk) im deutschen Sprachraum erscheinen – und diese erzählen Geschichten, die um den Wahnsinn kreisen, im Mittelpunkt stehen Figuren mit ausgeprägten Störungen. Anders gesagt: Ohne voneinander zu wissen, behandeln beide auf unterschiedliche Art den alten Widerspruch zwischen der individuellen Wunschproduktion als Hybris und den gesellschaftlichen Postulaten als Gewalt und Gesetz. Neu an der Darstellung der prinzipiellen Zweiteilung - hier die Anarchie des Individuums, dort das pluralistische Ordnungsprinzip – ist der Umstand, dass ihre kritischen, bewusst solitären Positionen der Werteordnung der Nachkriegszeit gegenübergestellt sind. Diese - so implizieren beide - trägt, wenn auch verwandelt, die Züge des 19. Jahrhunderts.
Der eine behandelt diese Verklammerung fiktiv, der andere theoretisch. Die Verklammerung ist dabei gleichzeitig die Verschränkung einer Frage und ihrer Antwort, die ein Unbehagen umreißt. Im Jargon der Sechziger Jahre würde die Frage nämlich lauten: Könnte es sein, dass die Rolle des Intellektuellen (oder des Künstlers) – sieht man einmal von denjenigen ab, die ihre Rolle in der Gesellschaft gefunden haben - als solches per se in die Nähe eines pathologischen Zustands gerückt wird? Andersrum gefragt: Könnte es sein, dass Desinteresse als Reaktion auf die künstlerisch-intellektuelle Arbeit einen Graben erzeugt, dessen gähnender Schlund die geistigen Energien nutzlos verschlingt – und mit ihnen die stets prekäre Verfassung der Vernunft?
Foucaults Essays über die Literatur haben jedenfalls mit Thomas Bernhards frühem Werk gemeinsam, dass beide abseits des Bekanntheitsgrades (sie waren zu dem Zeitpunkt noch nicht berühmt) den notorischen Verdacht mit sich schleppen, zwar in Augen anderer durchaus als das zu gelten, was man im eigenen Blick zu sein meint, dass dies aber mit einer Marginalisierung versehen ist. Dabei greifen jeweils der französische Denker sowie der österreichische Autor - unabhängig voneinander und auf unterschiedliche Weise – auf eine Annahme zurück. Sie erklären, dass die europäischen Gesellschaften ihre repressiven Methoden und Systeme des 19. Jahrhunderts nicht abgelegt, sondern lediglich transformiert hätten, wobei es ihnen nicht um eine Beweisführung denn mehr um eine Darlegung des Wahrscheinlichen geht.
Ihr Verdacht erklärt sich auch aus ihrer Biographie. Hinlänglich bekannt die Homosexualität Foucaults, seine offensichtliche Neigung zu Sadismus, aber ebenfalls der weniger der Yellow Press zugehörige Teil: seine inzwischen berühmten Entwürfe von Diskursen, die sich keiner Schule (etwa den Strukturalisten) unterordnen wollten. Ein Gespür dafür, dass er als Figur im Blick der Mehrheit sich in einer zwielichtigen Randzone aufhielt, hatte er sicherlich. Ebenso wie Thomas Bernhard, wenn auch unter anderen Prämissen, der unter einer schweren Lungenerkrankung litt, die seiner Karriere als Opernsänger ein abruptes Ende bereitete. Beide waren in etwa gleich alt (Foucault 1926, Bernhard 1931 geboren), gehörten zu jener Generation, die den Zweiten Weltkrieg als Jugendliche erlebten – und dessen erste Aufarbeitung mit der Demaskierung des Stalinismus und den Frankfurter Auschwitzprozessen mit ihrem geistigen Reifungsprozess zusammenfiel. Beide erlebten den zweiten großen industriellen Aufschwung in Europa, in seinen Dimensionen weit umfänglicher als derjenige vor den zwei autodestruktiven Weltkriegen. Und beide zogen aus diesem Umstand einen ähnlichen Schluss.
In den Romanen „Frost“ und „Verstörung“ beispielsweise zeichnet Bernhard eine österreichische Welt der Provinz, die trotz der Kriege und der nachfolgenden Umwandlungsprozesse das alte nationale Gesicht in ihren Institutionen und in der Mentalität trägt, nur ohne Kaiser und Reich. Das Land ist geschrumpft zu einer obskuren Zone am Rande von Europas Westen, und mit ihr sind die Einwohner zusammengefallen in ihre kleinstmögliche Einheit. Angestellte und Bauern, zufrieden mit ihrem jetzt gottlob kleinen Los, bilden das soziale Ensemble. Nachdem der Spuk des politischen Größenwahns an ihnen vorbeigezogen ist, befindet sich Österreich nun auch nicht mehr unter Beobachtung – und dreht sich in der Perspektive Bernhards in die Richtung einer gewünschten Vergangenheit, in der es ewig verharren möchte.
Michel Foucault behandelt in den Essays über die Literatur gerade französische Autoren wie Maurice Blanchot, George Bataille, Klossowski (der unter anderem Hölderlin ins Französische übertrug), die einige Gemeinsamkeiten aufzuweisen haben. Sie alle thematisierten auf unterschiedliche Art den Wahnsinn als allerletzte Ausdrucksmöglichkeit – in der neben dem finalen Charakter, die der Irrsinn enthält, sich auch der Beginn einer neuen Grenze auftut, ein Denken, das neu fixiert und normiert – und wieder sich selbst verwirft, erneuert usw. usf. Sie alle waren mehr oder weniger ‚Entdecker’ oder ‚Wiederentdecker’ von Nietzsches Werk im französischen Sprachraum. Sie alle waren Außenseiter und im weitesten Sinne Theoretiker – und sie alle deuteten in ihren Texten den Schatten, den das 19. Jahrhundert überproduktiv in das 20. warf.
Auch in anderer Hinsicht war jener Schatten lang, länger als selbst Foucault vielleicht gedacht hatte, der 1984 an Aids verstarb. In dem letzten Essay des Bandes verweist Foucault auf eine Arbeitsmethode Gustave Flauberts. Seine These lautet, dass das Kompositionsverfahren Flauberts sich nicht ausschließlich aus seinem Innenleben gespeist, sondern mehr aus dem Geiste der Kompilationen ihre Ergebnisse gezogen habe. Beispielsweise enthalte „Die Versuchung des heiligen Antonius“ Wort für Wort, Zeile für Zeile Auszüge aus historischen Quellen oder Traktaten seiner Zeit, was nicht heißt, Flaubert hätte einfach alles abgeschrieben. Das war nicht der Fall gewesen. Aber Flaubert arbeitete an jeder Szene akribisch, präziser formuliert: Für fast jedes Detail recherchierte er ausgiebig in Bibliotheken. Seine Besessenheit diesbezüglich begriff er auch als Entsprechung einer Inbesitznahme von Inhalten aus dem Medium Buch. Seine eigenen Bücher seien, so schließt Foucault, auch eine Reaktion auf die überwältigende Stofffülle, die das Medium Buch enthält. Zugespitzt formuliert: Flaubert war der ‚Entdecker’ einer wegweisenden Kompilations-Methode.
Als im letzten Jahr Jonathan Littells Roman „Die Wohlgesinnten“ auf Deutsch erschien, verwies der Autor bezüglich seiner Arbeit gerade auf Gustave Flaubert. Das klang einigermaßen affektiert. Wenn man aber seinen Holocaust-Roman gelesen hat, weiß man, dass dieser aus dem Geist der Kompilation heraus geschrieben wurde – und gelungen ist.

Michel Foucault: Schriften zur Literatur. Aus dem Französischem von Karin von Hofer und Anneliese Botond. 177 Seiten. Frankfurt am Main, S. Fischer 1988.
Eine viel umfänglichere Sammlung in einer späteren Übersetzung ist unter demselben Titel bei Suhrkamp erschienen. 450 Seiten. 14, 50 Euro. Das hier besprochene Taschenbuch der Reihe „Fischer-Wissenschaft“ ist nur antiquarisch erhältlich.

Donnerstag, 5. März 2009

Christian Lehnert: Auf Moränen

Von Manuel Karasek

Bei Christian Lehnert viertem Gedichtband „Auf Moränen“ ist Paulus eine schwergeprüfte Gestalt, der an seiner Unfähigkeit, die Vollkommenheit des Glaubens in sich zu finden, leidet. Und er meint, die von höchster Stelle ihm anvertraute Mission, nicht erfüllen zu können. Einmal heißt es: „Was ich auch tue, es führt in den Tod./ Was ich auch lasse, es ist mein Versagen./ Wenn ich erwache/ falle ich zu einem Punkt zusammen.“ Das Verfahren, mit dem Lehnert Paulus konstruiert, ist hier interessant.
Paulus Briefe sind ja – wie weithin bekannt - Zeugnisse glühenden Glaubens. Jedoch sind die Bruchstellen innerhalb der Glaubensdarlegung mit ihrem immer wieder zum Ausdruck hervorbrechenden Ängsten vor dem Tod und den Unterlegenheitsgefühlen gegenüber leiblichen Bedürfnissen immer schon Futter für die Hermeneutiker gewesen. Für Lehnert sind diese Bruchstellen dialektischer Ausgangspunkt seiner 24 Vigilien (Stundengebete), die Paulus Mission thematisiert. Das ist einerseits schlüssig und schön, weil er sich einer historischen Note bedient - was durchaus typisch für eine DDR-Lyriksozialisation ist (Lehnert wurde 1969 in Dresden geboren), die von Heiner Müller bis Durs Grünbein reicht. Andererseits wirken die Vigilien aber auch wie ein Sandalenfilm in Versen.
Trotzdem ist die sprachliche Verve, mit der Lehnert die Lücken im Glaubenssystem Paulus’ ausleuchtet, nicht unbeeindruckend: „Paulus hörst du?/ Ich spreche deinen Namen nach/ bis er mir nichts mehr sagt.“ Das hat dann Methode, denn später sagt er: „Ich bin, doch nicht in mir.“ Oder er konstatiert: „Nicht ich lebe, der Kommende lebt in mir.“
Lehnerts Gedichte haben also einen theologischen Einschlag, der allerdings im Dienste einer Spekulation steht. Der Dichter dreht an Paulus’ apodiktischem System von Glauben und Wahrheit kritisch herum. Eine ähnliche biographisch grundierte Methode wendet er in dem zweiten Abschnitt des knapp 130 Seiten langen Bandes an. Da stehen die verschiedenen Identitäten im Werdegang Erich Mielkes im Mittelpunkt, die ebenso fragmentarisch behandelt und dialektisch aufgelöst werden. „Das ist die Liebe“, heißt es einmal, „sich selbst/ zu vergessen. Enteignung und Entblößung. Wer ist wer?/ Fritz Leistner, Paul Bach? Erich Mielke?/ Dass ich das nicht bestimmen kann/ ist meine ganze Würde.“
Als Fritz Leistner kämpfte Mielke im spanischen Bürgerkrieg, der später mit anderen zusammen aus der Idee eines aufgeklärten sozialistischen Staates ein Gefängnis für 17 Millionen Menschen machte. Das heißt für Lehnert im Rückblick: Wann entsteht der Augenblick, wo aus einem System mit überzeugender Kohärenz eine geschlossene Anstalt wird?
Der ist manchmal etwas sperrig zu lesen, aber intellektuell interessant. Der ganze Post-DDR-Ernst kommt allerdings in dem Abschnitt, in dem sich Lehnert mit seiner Zeit als junger NVA-Bausoldat auseinandersetzt, besser zur Geltung. Diese Beschreibungen der schweren, körperlichen Arbeit mit ihren Knochen- und Muskelpathos überzeugen. Auch (oder gerade) weil Lehnert beeindruckende Bilder findet. In einem Gedicht beispielsweise werden verkrüppelte Krähen beschrieben – ein selbst sprechendes Bild für die flugunfähige DDR-Individualität.
Die schönste Lyrik des Bandes sind dann die aus feinfühligen Beobachtungen bestehenden Gedichte über die ersten Monate seiner Tochter. Und auch hier findet er schöne Bilder. Er begegnet der Befindlichkeit des Säuglings mit einer ozeanischen Metaphorik. Da tummeln sich die Delphine und Quallen; und das kindliche Prä-Bewusstsein schwimmt blind und vertraut in derselben Strömung. „Sie weiß von keinem Feuer,/ keinen Rauchgaben, keiner Sintflut.“ Vielleicht mögen das einige überladen finden, man kann sich dem nicht anschließen.
Denn selbst nach mehrmaligen Lesen verlieren Lehnerts Gedichte nichts von ihrem warmen Ton, verbunden mit der weit ausgreifenden Bildkraft. Das ist sicherlich auch ein Ergebnis der von ihm ausgesuchten Themenschwerpunkte. Vielleicht wird man bei diesen Gedichten so empfänglich, weil in ihnen immer wieder ein Kerngedanke klassischer Theologie aufleuchtet: Nämlich die Frage, warum es im metaphysisch erfahrbaren System der Natur eine so universell unpersönliche Kraft gibt, die ausgerechnet den Menschen liebt. Und man wird das Gefühl nie los, dass Christian Lehnert einen alten emotionalen Umriss noch einmal neu fasst.

Christian Lehnert: Auf Moränen. Gedichte. 134 Seiten. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2008. 16,80 Euro

Montag, 2. März 2009

Jose Manuel Prieto: Die kubanische Revolution und wie erkläre ich sie meinem Taxifahrer

Von Manuel Karasek

In den 90ern, nach dem der Kommunismus in Osteuropa spektakulär kollabiert war, öffnete Kuba seine Tore für den internationalen Tourismus. Fasziniert vom insularen Sozialismus kehrten viele (oder sagen wir abmildernd: einige) regelrecht hypnotisiert in ihre kapitalkräftigen Heimatländer in Europa zurück – und berichteten anschließend gar wundersames. Ausschließlich gastfreundschaftliche Inselbewohner waren ihnen begegnet, die nicht behelligt wurden von lästiger Werbung und giftigen Eigentumsverhältnissen. Strukturell siedelten sich solche Erzählungen in die Nähe utopischer Narration, in der messianische Elemente unbemerkt ins Satirische rutschten: Im Blick mancher verklärte sich Kuba zu einer Insel voller Nazarener.
Enerviert war der im Exil lebende, kubanische Autor Jose Manuel Prieto jedoch nicht von Karibikurlaubern, als er das Buch über seine Heimat schrieb. Gereizt hatte ihn eher ein alltägliches und offenbar global verbreitetes Phänomen: Gleichgültig in welchem Taxi er Platz nahm, egal an welchem Ort (Paris, Madrid, New York) – kam die Rede auf seine Nationalität, begannen die Chauffeure von Fidel Castro zu schwärmen. Der Rauschebart tragende Regierungschef galt ihnen als Personifizierung eines karibischen David, der den US-Goliath mehrmals eins ausgewischt hatte. Dieser Anekdote entsprechend klingt der Titel von Prietos jüngstem Werk auch entweder wie der Anfang oder die Pointe eines langen Witzes („Die kubanische Revolution und wie erkläre ich sie meinem Taxifahrer“), hat aber einen bitterernsten Hintergrund.
Prieto weiß nämlich, dass das Image Kubas vor allem über das negative Erscheinungsbild der Hegemonialmacht USA geprägt wird – und dass Fidel Castro seit 50 Jahren zum Schaden des eigenen Landes davon profitiert. Da setzt auch seine Kritik an, die sich nur am Rande mit der Geschichte der Revolution von 1958/59 auseinandersetzt, dafür aber mehr ihre Auswirkungen auf die Bevölkerung beschreibt, die mit den Folgen des politischen Umbruchs leben musste. Das dabei der oberflächliche Blick mancher Touristen implizit ins Spiel kommt, liegt an Prietos Kenntnissen, die eng mit seiner Autobiographie verknüpft sind: 1962 als Sohn eines Arztes geboren, Absolvent einer technischen Eliteschule, Ingenieursstudium in der UDSSR, daraufhin freiwilliges Exil und erste literarische Publikationen. Er gehört zu jener Generation, die Ende der 80er Jahre Reformen am sozialistischen Kurs forderten – eine Bewegung, die Fidel Castro schon im Keim erstickte.
Die Konsequenz davon war der zweitgrößte Exodus seit 1980. Ingesamt haben seit der Revolution, so berichtet Prieto, zehn Prozent der Kubaner ihre Insel verlassen, viele ertranken in den 90ern beim verzweifelten Versuch, mit selbst gebastelten Flössen das Meer zu überqueren. Der inzwischen schwer erkrankte Castro, der von allen seinen Ämtern zurückgetreten ist, verstand es immer, das nordamerikanische Handelsembargo zu seinen Gunsten zu nutzen. Mal diente es ihm als Schuldzuweisung für die instabilen ökonomischen Verhältnisse auf Kuba, dann wieder kam es ihm als Beleg für die imperialistisch-kolonialistischen Bestrebungen der USA entgegen; und selbst aus kurzfristigen Abkommen wie dem von Carter und Castro von 1980, in der eine Quote für Flüchtlinge festgelegt wurde (Ronald Reagan hob die Regelung zwei Jahre später wieder auf), schlug er Kapital. Prieto schreibt hierzu, dass Castro für seine Regimegegner keine Gulags gebraucht habe, Miami hätte gereicht.
Der Autor hält sich aber nicht, wie man jetzt erwarten könnte, am rechten politischen Rand auf – wie zahlreiche Exilkubaner, die seit Jahren eine gewaltsame Zerschlagung der kommunistischen Herrschaft unter Mithilfe der USA postulieren. Das Bezwingende seines Textes findet man eben darin, dass sein Verfasser nicht jenen Ressentiments unterworfen ist, die Merkmale der verhärteten, polarisierten Positionen sind. So hält er beispielsweise die Revolution als solche für einen Irrweg, ist aber gegen einen gewaltsamen Umbruch, in dem er lediglich die blinde Tendenz erblickt, 50 Jahre kubanischer Geschichte wegzuwischen – und spricht sich für eine schrittweise Lösung aus, ähnlichem dem chinesischen Weg. Trotz dieser Akzente ist sein Buch keine politische Streitschrift, sondern eher ein spielerischer (und gleichzeitig ernster) Exkurs in die schizophrene Affinität des Lateinamerikaners zum großen Bruder im Norden. Wie sehr in mancher Beziehung Kuba doch den USA gleicht, wie stark vom Hochmut die Nordamerikaner geblendet sind – das hat übrigens auch pädagogisches Potential für die Zukunft.

Jose Manuel Prieto: Die kubanische Revolution und wie erkläre ich sie meinem Taxifahrer. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. edition suhrkamp, 2008. 220 Seiten. 10 Euro

Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten

Von Manuel Karasek

Die denkbar schlechtesten Kritiken hierzulande hatte vor gut einem Jahr Jonathan Littells Roman über den Holocaust „Die Wohlgesinnten“ bekommen. Iris Radisch in der „Zeit“ bezeichnete den Autor als „Idioten“, Georg Klein in der „SZ“ erklärte, Littell verfüge über keine „Sprache des Bösen“. Selbst wohlwollende Kritiker wie beispielsweise Klaus Harprecht meinten, Littell habe sein umfangreiches Material zwar eindrucksvoll in den Griff bekommen - was ein gutes Essay ergeben hätte, sei aber bei der Arbeit in eine „Falle“ getappt, die in der ‚Natur’ des finsteren Sujets liege. Die Massenvernichtung aus der Perspektive eines Täters lasse, so Harprecht, als Romanthema keine Überhöhung zu, die sprachliche und formale Ausarbeitung führe automatisch zu Schmock und Kitsch – also „Die Wohlgesinnten“ seien schon von ihrem Ansatz her ein gescheitertes Projekt.
Damit wäre eigentlich alles klar gewesen. Die ‚Lebensbeichte’ des ehemaligen SS-Mannes Max Aue, die trotz des Umfanges von knapp 1400 Seiten in Frankreich fast eine Million Mal verkauft wurde, war ein kalkuliertes Machwerk, das darauf hatte bauen können, vom breiten Rücken der postmodernen Holocaust-Religion getragen zu werden. Doch nur wenige Tage nach den harschen Verrissen meldete sich der Soziologe und Psychologe Klaus Theweleit zu Wort, der mit seiner fundierten Studie „Männerphantasien“ als Koryphäe der Faschismusforschung gilt – und in der öffentlichen Wahrnehmung auch kein Unbekannter ist. Nicht Littells Roman sei gescheitert, so Theweleit, sondern die deutsche Literaturkritik. Hauptsächlich habe sie nämlich übersehen, dass die literarische Darstellung der Shoa aus dem Blickwinkel eines Mörders zu keiner Kunstsprache a’ la Thomas Mann führen könne. Die Rezensenten, allen voran Iris Radisch, hätten aufgrund ihrer falschen Erwartungen einen wichtigen Aspekt von Littells Konzept nicht verstanden. Auch er, Theweleit, habe erst nach 700 Seiten begriffen, dass dieser Kitsch und Schmutz unverzichtbarer integraler Bestandteil von Max Aues Psyche wäre - und sich dementsprechend auf seinen 'Stil' auswirke. Und liest man beispielsweise die Ausschnitte der faschistischen Freikorpsliteratur der 20er Jahre, die Klaus Theweleit immer wieder und sehr zahlreich als Beispiele in „Männerphantasien“ (1977 erschienenen) eingefügt und kommentiert hat, kann man nicht übersehen, dass es regelrecht auffällige Strukturähnlichkeiten zwischen der Figur Aue und den historischen Zeugnissen gibt.
Frappant ist es schon, dass Max Aue eine inzestuöse Beziehung zu seiner Zwillingsschwester Una führt – und dass bei fast allen Autoren der Freikorpsliteratur (zu deren Autorenkreis übrigens auch Ernst Jünger gehörte) eine starke Neigung zum Inzest unübersehbar war. Frappant auch, dass sich hinter dem Postkartenkitsch des Ich-Erzählers Max Aue eine irritierende Gefühlsöde verbirgt, die eindeutig mit den sentimentalen Berichten und Erinnerungen vieler ehemaligen Soldaten des Ersten Weltkrieges (aus dem die Freikorps hervorgingen) korrespondiert – und die eine Gemeinsamkeit aufzeigt: Ihren Hang zur fast uneingeschränkten Destruktivität. Daraus leiten sich schließlich zwei Fragen ab. Warum hat die deutsche Literaturkritik diese auffällige Parallele nicht aufgreifen können? Oder war etwa nur Klaus Theweleit, durch seine Forschungsarbeit am Faschismus besonders sensibilisiert, in der Lage, Littells Buch zu begreifen?
Dazu muss man wissen, wie professionelle Literaturkritik unter marktabhängigen Kriterien funktioniert – oder besser: zu funktionieren hat. Beispielsweise war auffällig, dass Iris Radisch Jonathan Littells sprachliche Handhabung die Nähe zum „Thriller“ attestierte, was im Kontext eine eindeutig negative Wertung bedeutete. Andere Rezensenten hatten einen ähnlichen Katalog von Vorwürfen herausgearbeitet. Daran lässt sich der Charakter literarischer Ableitungen ablesen, die dann „Die Wohlgesinnten“ im Zusammenhang mit der industriellen Publikation von Bestsellern stellt. Was in Theweleits Blick zum Hinweis und zur Verarbeitung fast eines Gegenentwurfs zu einer konservativen Ästhetik geriet, war für die Literaturkritik (das gilt natürlich nicht für alle) der Versuch billiger Provokation und Effekthascherei. Die daraus sich ergebende Hypothese hätte schließlich gar nicht lauten müssen, dass die Literaturkritik gescheitert war, sondern dass sie sich gelegentlich überfordert fühlt – nicht von Littell selbst, sondern eher von dem Massenkulturprodukt Buch.
Literaturkritische Interpretationen der Belletristik neigen dazu, zirkulär zu sein. Das heißt, sie beziehen sich stets auf bestimmte Teile des Kanons und auf bestimmte stark ausgeleuchtete Momente im Radius der Veröffentlichungen der letzten Jahre. Was bei einer Kritik an professionellen Rezensenten oft vergessen wird, ist, dass Literaturkritik, sobald sie sich im Focus verstärkter Wahrnehmung befindet, dazu tendiert, konservativ zu sein. Und es ist gar nicht mal so sehr Werteerhaltung, die daraus spricht, als vielmehr die Neigung, wohl vertrautes Gelände – auch weil es so groß ist – nicht zu verlassen.
Littells Roman produzierte in der zeitgenössischen Wahrnehmung somit zwei Lesarten. In der einen hatten „Die Wohlgesinnten“, trotz der zahlreichen Einfügungen des SS-Beamtenjargons, eine unübersehbare Nähe zu einer globalisierten Bestsellerkultur, die ein historisches Ereignis von einer solchen Tragweite bestenfalls in seiner Darstellung 'fotokopieren' konnte - und damit einen speziellen Vouyerismus des weltweit an dem Thema interessierten Buchkunden bedient. In der anderen blitzten der Schrecken aus dem Schatten Max Aues hervor – und seine Biographie wurde nicht als Schule individuellen Werdens begriffen, sondern als destruktiver Ausdruck einer generellen Pädagogik ihrer Zeit, die die Eliminierung großer Bevölkerungsteile mit unvorstellbarer Unempfindlichkeit legalisierte.
Dass man bei der Interpretation oftmals darauf beharrte, Littells Hauptfigur sei im Kern inkonsistent und partikular, hängt damit zusammen, dass im literarischen Bewusstsein selbst finsterste und skrupelloseste Gestalten wie beispielsweise Richard III. oder der revolutionäre Terrorist Pjotr Werchowenski aus Dostojewskis „Die Dämonen“ ihr zerstörerisches Werk in einem Umfeld tätigten, die ihre kriminelle Energie wahrnahm. Und zieht man selbst einen Roman aus jüngerer Zeit, Bret Easton Ellis 1999 erschienenen Roman „Glamorama“, zu Rate, der sich mit der Dynamik des Bösen auseinandersetzt, so fällt im Vergleich zu „Die Wohlgesinnten“ eines besonders auf. Victor Ward – der Ich-Erzähler in Ellis Roman – taumelt zwar von Drogen benommen in eine groteske und gefährliche Terrororganisation (die sich als Modeunternehmen tarnt), er ist aber nie so stoned, dass sich sein Mitgefühl verflüchtigt.
Es gibt zwei Szenen in „Die Wohlgesinnten“, die Max Aues Unempfindlichkeit – seine Unfähigkeit zum Eingeständnis des Bösen aus dem Geiste längst verinnerlichter Verrohung - stärker ausleuchten, als die von Teilen der Kritik als Pornographie gebrandmarkten Erschießungsszenen. Auch weil sie eher argumentativ operieren und somit subtiler in ihrer Wirkung sind. In der einen erklärt Aues guter Freund Voss (ein Ethnologe), dass die Rassenlehre wissenschaftlich unhaltbar sei und außerhalb Deutschlands von keiner seriösen Akademie ernst genommen werde; man könne also irgendeinen auf der Straße einfach aufgreifen, ihn zum Juden erklären und daraufhin exekutieren, es mache keinen Unterschied. In der anderen Episode trifft Aue auf den Arzt Dr. Wirth, der die Folgen der Massenvernichtung beim Wachpersonal untersucht. Dieser berichtet unter anderem, dass ein Großteil des Sadismus’ des Wärters gegenüber seinen Häftling auf die uneingestandene Erkenntnis des Täters beruhe, dass sein Opfer kein Untermensch sei, sondern auf skandalöse Weise gleichrangig – was letztendlich das Paradoxon ungehemmter Brutalisierung hervorbringe.
Aue hört beiden zu – und nimmt an der Vernichtung weiter teil. Zusammenfassend lässt sich dann sagen: Damit aus Max Aue eine wirklich böse Figur im klassischen Sinne würde, bräuchte er etwas so Universelles wie ein Gewissen, ergo ein Mitgefühl für die anderen – und eine Gesellschaft, die dies nicht grundsätzlich ablehnt. Vielleicht beruht die Verständnisschwierigkeit der „Wohlgesinnten“ gerade darauf. Allerdings ging es schließlich um mehr als um Literatur. Die Rezensionen in Deutschland legten vor allem eine Behauptung frei, die in der scheinbaren Feststellung mündete, dass man die Komplexität totalitärer Staaten wie dem des nationalsozialistischen Deutschlands nicht mehr erklärt zu bekommen bräuchte. Bei genauerem Hinsehen erwies sich das gerade als ein verinnerlichter Reflex der Abwehr.

Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten. Roman. Aus dem Französischen von Hainer Kober. 1381 Seiten. Berlin Verlag. 36 Euro.

Freitag, 13. Februar 2009

Elias Canetti: Das autobiographische Werk

Von Manuel Karasek

Nahezu beängstigend schön wirken die autobiographischen Texte Canettis, die zwischen 1975 und 1985 als Einzelbände veröffentlicht wurden. Egal ob es sich um „Die gerettete Zunge“, „Die Fackel im Ohr“ oder „Das Augenspiel“ handelt; alle drei Bücher, die zusammen gelesen werden sollten, so als handelte es sich um einen einzigen Band – erscheinen wie ein Phänomen. Das hat natürlich (aber nicht allein) mit Canettis Herkunft zu tun: Spross wohlhabender Spaniolen, die an der rumänisch-bulgarischen Grenze lebten, die Eltern Bewunderer der deutschsprachigen Kultur des österreichischen Kaiserreiches, Onkel und Vetter erfolgreiche Unternehmer mit Sitz in Manchester. Im Rückblick, auch weil der Holocaust einen Großteil der sephardischen Bevölkerung vernichtete, verursacht diese Lebens- und Selbstbeschreibung eine Nähe zur Legende, gleichwohl dies nie Absicht des Autors war; und der Text nie den Ton eines Märchens annimmt.
Doch man kann nicht umhin, eine Evidenz festzustellen, die sich aus dem Bewusstwerden der Shoa speist, gleichwohl Canetti die Vernichtung nur am Rande thematisiert. Eine Wirkung, die an Peter-Andre Alts Biographie über Franz Kafka „Der ewige Sohn“ erinnert, die ebenfalls die untergegangene Welt der assimilierten jüdischen Bevölkerung Osteuropas beschreibt. Canettis drei ‚Lebensromane’ verursachen deshalb auch einen ungewohnt unsentimentalen Moment der Andacht – und einen nahe dem Ketzerischen befindlichen Kitzel. 970 Seiten lang dauert diese Lebensreise an, die die Jahre 1905 bis 1935 behandelt. Es ist – wenn man die Betrachtung erstmal auf die Oberfläche des Plots beschränkt - eine ungewöhnliche Konfrontation mit einer narrativen Dynamik und Energie, verfasst von einem 70jährigen, dessen Werk – wen wundert’s! – manche Publikationen der Heutigen greisenhaft aussehen lässt.
Sicherlich, die erzählerische Wucht ist zunächst das Ergebnis der eindringlichen Schilderung eines Familiendramas. Überraschend stirbt der Vater mit 32 Jahren an einem Infarkt. Die Mutter, eine junge Witwe mit drei kleinen Söhnen, baut zu ihrem ältesten Sohn Elias eine komplizierte Ersatzbeziehung auf, in der er in die Rolle des verstorbenen Vaters schlüpft. Die Familie zieht von Manchester nach Wien, von dort später nach Zürich, dann – als Elias Canetti volljährig wird – ohne ihn nach Paris. Die großartige Darstellung der ambivalenten Mutter-Sohn-Beziehung, die im Zentrum des ‚ersten Teils’ („Die gerettete Zunge“) steht, mag psychoanalytisch geprägte Interpretationen hervorrufen, ist aber gerade gegen standardisierte Deutungen aus dieser Richtung geschrieben.
Das schwierige Verhältnis zur Mutter erweist sich schließlich mehr als Ausgangspunkt für einen bedeutenden Aspekt von Canettis Weltanschauung. Bei seiner Arbeit zu seinem einzigen Roman „Die Blendung“ ging Canetti in den frühen 30er Jahren – er lebte zu der Zeit in Wien - von der spekulativen Idee aus, dass sich die Mitglieder moderner Gesellschaften von Grund auf missverstehen. Er begriff den Gedanken nicht als das eklatante Fehlen von Solidarität und Altruismus. Mehr verwies er auf eine negativ gefärbte, dialektische Konstante in der individuellen Prägung modernen Menschseins. Aus Canettis Sicht müssen sich die Menschen missverstehen - und erst der damit in Gang gelegte Prozess offenbart die Entfesselungskräfte der Gesellschaft: Ihren konstruktiven Charakter oder ihren Hang zur Destruktion.
Zu welcher Seite damals die Wagschale längst gekippt war, war Canetti fernab kitschiger Prophetenposen klar. Gerade deswegen schenkt er im zweiten und dritten Teil seiner Autobiographie zwei Personen großen Raum, die den Gegensatz zum gewaltakzentuierten Vorlauf des Zweiten Weltkrieges bilden. Dass dabei der an Muskelschwund leidende Thomas Marek und der Fabrikantensohn Dr. Sonne, der einen großen Teil seines Vermögens verschenkt – man erinnert sich da an Wittgenstein, in den Focus geraten, hat eine innere Logik. Während der Gang der Dinge unheilvoll voranschreitet und alle mehr oder weniger zur kollektiven Tragödie beitragen, stehen der fast bewegungsunfähige Philosophiestudent Marek und der Hebräischgelehrte Sonne (der nicht eine Zeile schreibt, geschweige denn veröffentlicht) für eine Handlungsverweigerung aus dem Geiste des Begreifens. Weil sie eben die Zeichen der Zeit verstehen, unterstreichen diese Außenseiter im sich widersprechenden Sinne Canettis Befund.
Dass sich ihre Eigendynamik im Stillstand artikuliert, steht auch nur scheinbar im Widerspruch zur Neigung Canettis, hingerissen von der Arbeit an den zahlreichen Porträts zu sein, die ohnehin das Format seiner drei autobiographischen Bücher prägen. Ein Besuch in Berlin 1926, in dem ihm die ganze damalige künstlerische VIP Lounge von Grosz bis Brecht begegnete, mündet in einen Ekel gegenüber Prominenz und Narzissmus. Dass dabei Canettis Prosa alles andere als langsam und uneitel daherkommt, spricht für den Zorn (und damit für die Empfänglichkeit), die die Nähe zum Kulturbetrieb bei ihm produziert: Marek und Dr. Sonne (aber auch die Mutter) sind in Canettis Wahrnehmung dagegen singuläre Produkte außerhalb des Literaturmarktes, deswegen gerade versehen mit einem Echtheitszertifikat von hohem symbolischen Gehalt. Aber ihre Wirksamkeit kann erst in der Gegenüberstellung zu jenen Professionellen – ergo den Kulturproduzenten - wahrgenommen werden.
So pendelt Canettis Prosa stets zwischen den Polen: Hier das Eigentliche, Unverfälschte. Da das Medusenhaupt mit seinen Schlangen aus Ehrgeiz und Geltungsbewusstsein. Der Text nimmt dabei aus dem Rückblick heraus die Perspektive desjenigen an, der aus großer Höhe über die Vergangenheit fliegt. Dass es dabei um die Erfahrung von sozialer Natureigengesetzlichkeit und ihrer scheinbaren Aufhebung geht, ist die Metaebene, die das Vergängliche im Visier hat. Denn als Schwerkraft, die ja buchstäblich von am Rollstuhl gefesselten Thomas Marek ausgeht, begreift Canetti dessen Zustand; und versteht ihn überdies als geglückte Verhinderung jener Entfaltungskräfte, die im Dienste der Eigeninteressen stehen.
Expliziter und plastischer: Für jeden Löffel Nahrung braucht Marek eine helfende Hand, mit der Zunge blättert er die Seiten des Bandes von Spinoza oder Husserl um; und die Frauen, von denen eine ihn schließlich heiratet, bemerken in der Konfrontation mit diesen Schwerbehinderten unerwartet ihren Altruismus geweckt – der sie letztendlich überwältigt. Und auch den Ich-Erzähler fasziniert vor allem die Größe des im kranken Körper gefangenen Bewusstseins. Der hochgeistige Schwebezustand des philosophischen Intellekts, gekettet an den Realitäten der Krankheit. Die 'Schreibunfähigkeit' Mareks (seine diktierten Texte sind im Gegensatz zu seiner vitalen Mündlichkeit alle farb- und nuancenlos) erweist sich schließlich für Canetti als Annäherung an eine bestürzende Wahrheit, die die Unfähigkeit des Menschen, sie zu erlangen, gleichzeitig artikuliert: Sich zu ergeben in den Kosmos des Vergessens - und nicht dagegen anzuschreiben.
Der kulturpessimistische Splitter in dieser narrativen Diagnostik richtet sich dann vor allem gegen die Mutter und ihr Vermächtnis. Und gleichzeitig steckt darin der Keim zu ihrer Verteidigung. Als „Die Blendung“ erscheint, erklärt die Mutter, sie sei beeindruckt – und fügt hinzu, das Buch hätte von ihr stammen können. Der Sohn, so gibt sie zu verstehen, sei eigentlich nur das Medium ihrer Begabung. Als sie wenige Jahre später in Paris bettlegrig den Tod erwartet, schickt sie ihren Ältesten immer wieder weg. „Geh! Ich will dich nicht sehen.“ Ein grausames Spiel, das sich mehrmals wiederholt.
Trotz der tödlichen Krankheit, die sie ja milder stimmen müsste, rückt sie nicht ab von der Figur göttlicher Zensur. Sie ist also - das merkt der Leser unweigerlich - noch immer dieselbe Frau, die dem Achtjährigen (der aus Manchester kommend ‚nur’ Englisch sprechen konnte) in einem psychischen Gewaltakt die deutsche Sprache eintrichterte. Die Mutter zeugte über die Ebene jener Sprache, die in ihrem Verständnis für die Kulturvermittlung zuständig war, ihren Sohn ein zweites Mal – und schob sich selbst und ihre Willensstärke, auch weil der hybride Eros dieser autonomen Schöpfung ihr ein Gefühl von Größe verlieh, daraufhin in einen privatmythologischen Raum, aus dem sie den Sohn, sobald er die Mündigkeit erreichte, verstoßen musste. Dass der Sohn Dichter wurde, war ein pythagoreischer Verstoß. Aber in ihren Augen so wie im Blick des Sohnes hat die Übertretung eine Rückseite. Sie, die nicht schreibt, muss seine künstlerische Tätigkeit als stete Ahnung eines leeren Horizonts empfinden, der das Individuelle zu schlucken droht.
Es mag pure Illusion sein, dass das Geschriebene die Leere ausfüllt, so impliziert der Text. Die Illusion bleibt viel zu mächtig. Der Sohn ringt durch das Schreiben eines Buches – das 1934 in Österreich mit nicht unbedingt großer Aufmerksamkeit erscheint - dem gefühlstauben Himmel jene Geschichtlichkeit ab, auf der der Mensch sein Verständnis von Ewigkeit gründet. Das beleidigte Künstler-Ego der Mutter sieht darin ihr Vermächtnis. Daraus folgt, dass Canettis autobiographisches Schreiben sich über eine Anpassungsfähigkeit artikuliert, die den freiwilligen Schrumpfungsprozessen von Marek, Dr. Sonne und der Mutter die Ausdehnung einer Prosa entgegensetzt, die vor allem von einem bedrängenden Reichtum in Ausdruck, Stil und Emotion beseelt sein möchte – und es auch ist.
Man kann es schlichter, beziehungsweise phantastischer ausdrücken - und sollte sich daran erinnern, dass Canetti den Tod zu seinem Feind erklärt hatte: Das Universum, als Träger diese Todes, ist in seiner Perspektive nicht nur der Behälter, der über eine unendliche Kapazität verfügt, ausgehauchtes Dasein zu stauen. Das Universum ist auch (oder vielleicht vielmehr) eine virtuelle Bibliothek, die noch immer und für alle Zeiten unendlich freien Regalraum zur Verfügung stellt. Das ist zwar auch nur ein schwacher Trost gegen die Übermacht des Todes, aber immerhin ist es - und man sollte dabei die theologische Dimension nicht unterschlagen - Trost.

Elias Canetti: Das autobiographische Werk. 983 Seiten. Frankfurt am Main, Zweitausendundeins, 2000. 14,90 Euro.

Montag, 26. Januar 2009

Stendhal: Die Kartause von Parma

Von Manuel Karasek

In dem berühmten, neu übersetzten Roman „Die Kartause von Parma“ von Stendhal verfolgt man etwa in der Mitte des Buches, wie sich zwei junge Leute, obwohl sie sich kaum kennen, mächtig ineinander verlieben. Daran mag nichts Besonderes sein. Jedoch ist die Situation, in der sie sich begegnen, der Fixpunkt, an dem sich alle Kräfte des Romans sammeln. Ein Gefängnis ist gerade der Ort der romantischen Begegnung. Bei der einen Figur handelt es sich um den adligen Helden Fabrizio del Dongo - eine durchgehend draufgängerische Natur, die wegen eines angeblichen Mordes im wuchtigen Turmverlies von Parma sitzt. Der andere junge Mensch ist eine blonde Provinzschönheit, Clelia Conti mit Namen, die gegenüber vom Turm auf dem Dach eines Nebengebäudes ihre große Sammlung von Ziervögeln pflegt.
Die beiden jungen Menschen können einander nur aus der Entfernung sehen, werden auch getrennt von den Wachen. Der jeweilige Fensterausschnitt ist im Grunde alles, was Ihnen zu Gebote steht. Sie haben sich im Laufe der abenteuerlichen, ja fast überschlagenden Handlung, die Stendhal im April 1839 in Paris in zwei Bänden veröffentlicht, zwar zweimal gesehen, aber dabei nicht ein einziges Wort gewechselt.
Das holen sie nun auf eine besondere Weise nach. Auf großen Zetteln schreiben sie die einzelnen Buchstaben des Alphabets. Nächte lang kommunizieren sie so – voller Leidenschaft und Inbrunst. Es stört auch nicht, dass die ziemlich langwierige Mitteilungstechnik sich mehr für SMS-kurze Botschaften eignet. Stendhal lässt Fabrizio und Clelia Dialoge führen, die wie Senatorenreden oder Opernarien anmuten. Es beschleicht einem eine gewisse Unruhe während der Lektüre: Eine ziemlich ambivalente Szene, meint man; und nicht unbedingt der italienischen Realität um 1825 abgeschaut. Aber man täuscht sich zum Teil.
Was Stendhal, der in Italien lange Zeit als französischer Konsul lebte, in seinem 650seitigen grandiosen und von Elisabth Edl wundervoll übersetzten Roman einfing, war vor allem der italienische Geist. Dieser, wie er sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts präsentierte, ist von Stendhal derart kunstvoll erfasst, dass man glaubt, während des Lesens danach greifen zu können. Denn die Gefängnisepisode mit der deutlichen Note an Melodramatik erinnert durchaus an Opernszenen, ist aber auch deutlicher Hinweis auf eine politische Realität des damaligen Norditalien.
Stendhal vermischt in seinem letzten Roman, der sein einzig großer Bucherfolg zu Lebzeiten wurde, geschickt zwei Elemente und erreicht damit unglaubliche Effekte. Zum einen benutzt er alte italienische Novellen aus der Renaissance als Model für seine wechselvolle Geschichte, die dadurch teilweise den Charakter eines Mantel-und-Degen-Romans erhält. Zum anderen orientiert er sich an der Wirklichkeit der absolutistischen Kleinstaaten in Norditalien, die allesamt Produkte der Restauration nach 1815 waren – und wo Liberale schon mal für Jahrzehnte in die dunklen Verliese der von Österreich protegierten Fürsten landeten. So schwankt Stendhals Roman ständig zwischen ziemlich unwahrscheinlichen Gegebenheiten und einer genauen Erfassung realistischer Vorgänge, ist gleichzeitig düsteres Märchen und faszinierende Beschreibung der Korruption an italienischen Provinzhöfen. Balzac, der große Kollege, fand letzteres derart beunruhigend, dass er Stendhal bat, die Stadt Parma im Titel nicht zu nennen.
Der wesentlich jüngere Balzac, der die ‚Kartause’ enthusiastisch gefeiert hatte, hatte gute Gründe dafür. Nicht unweit von Parma, in Modena, herrschte einer jener Kleinstaatdespoten, die dem fiktivem Ernesto IV. so ähnelten. Man konnte durch die ‚Kartause’ schon politische Verwicklungen fürchten. Einerseits zeichnet Stendhal, der mit bürgerlichen Namen Henri Beyle hieß, seinen Fürsten als Karikatur eines Herrschers. Andererseits zeigt er mit Ernesto IV. einen typischen Vertreter der Restauration, einen reaktionären Mann, dem die Seele brennt, die Geschichtsuhr mit aller Gewalt zurückzudrehen. Das politische Spannungsfeld der sich widersprechenden politischen Ansichten zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist schließlich der thematische Schwerpunkt des Romans. Er zeigt sich als Riss durch die Generationen und gibt Stendhals Geschichte seine unwiderstehliche Dynamik – die schließlich in der Gefängnisszene kulminiert.
Denn Stendhals Held, Fabrizio del Dongo, empfindet zu Beginn der Handlung sein väterliches Umfeld in Mailand als verstaubt – und nimmt die erste Gelegenheit wahr, sich in der napoleonischen Armee auszuzeichnen. Der Roman ist ja weltberühmt für die Passagen, in denen geschildert wird, wie der 17jährige del Dongo an der Schlacht in Waterloo teilnimmt. Wie Stendhal die Realität eines sinnlosen Gemetzels einfängt, es durch den naiven Blick seines Protagonisten konterkariert, dessen Handlungsweise übrigens an Parzival gemahnt – und dabei stets den einzigartig funkelnden ironischen Erzählton hält: Das ist staunenswert und verliert nie an Frische. Dieser Erzählmodus hat aber auch über die berühmte Kriegsszene hinaus etwas Bezirzendes.
Während nämlich der jugendliche Draufgänger Fabrizio im spätnapoleonischen Frankreich herumirrt, gelingt es seiner Tante, die Herzogin Piacenza, am Hof von Parma Fuß zu fassen und sich mit dem Minister, Graf Mosca, zu verbünden. Beide schmieden für Fabrizio, der wegen seines Eifers für den französischen Kaiser vom Vater verstoßen wurde, eine Karriere als Bischof – was grotesk bei einer Figur anmutet, welche die Finger von den Frauen nicht lassen kann. Letzteres bringt Fabrizio schließlich auch ins Gefängnis, weil er im Streit um eine Schauspielerin den Liebhaber versehentlich tödlich verletzt. Das ist streng genommen, so verdeutlich das Stendhal immer wieder auf subtile Weise, eine Lappalie, für die ein Adliger nicht wirklich belangt werden kann.
Stendhal macht aber aus diesem Fall eine sensationelle Parodie der politischen Verhältnisse des damaligen Italiens, gestaltet ihn zu einem Provinzskandal, der das Fürstentum Parma in seinen Grundfesten erschüttert. Zwei Parteien streiten nämlich um die Gunst Enrico IV. Auf der einen Seiten Graf Mosca und die Herzogin, auf der anderen die Gräfin Ranieri mit ihren Dunkelmännern Rassi und Conti, wobei letztere hohe Tiere des Polizeiapparates von Parma sind. Fabrizio ist ohne sein Wissen lediglich Spielball beider Mächte. Deswegen entbehrt es nicht der Ironie, dass sich Fabrizio in die schöne Tochter von Gefängnisdirektor Fabio Conti verguckt – und damit die Pläne beider Parteien unfreiwillig unterwandert. Mehr Oper konnte Stendhal, der die Musik von Rossini und Cimarosa liebte, in seinen Stoff wohl nicht einbauen. Es ist schon großartig, wenn in der ‚Kartause’ geliebt wird: Fehlt eigentlich nur noch das Orchester.
Natürlich führt diese Sprache, sobald sie Begierde und Verlangen thematisiert, durch ihre Nähe zur Form eines Librettos zu bizarren Ergebnissen: Die Herzogin ist schwer verliebt in ihren Neffen Fabrizio, Graf Mosca liebt dieselbe, Enricio IV. liebt ebenfalls die Piacenza, fühlt sich aber von ihr zurückgewiesen und lässt deswegen kurzerhand Fabrizio verhaften. Clelia liebt eigentlich Fabrizio, will aber ihrem Vater die Karriere nicht versauen, heiratet statt Fabrizio einen anderen – und so geht das in einem fort. Die Kartause ist teilweise eine großartige Soap des 19. Jahrhunderts und gehört zusammen mit den Romanen Balzacs zu den bedeutendsten Werken der Literatur, die in Frankreich zwischen 1830 und 1840 erschienen. Gemeinsam ist ihnen vor allem, dass sie äußerst kunstvoll Kolportageelemente in ihren Romanen integrieren.
Gerade dem Schwung, der von diesen ‚Trivialmustern’ ausgeht, kommt die Übersetzung entgegen. Manche Umständlichkeiten alter Übertragungen sind nun weg und auch die Dialoge wirken jetzt pointierter. Die Gefängnisszene ist übrigens auch ein Spiegelkabinett der Pathologien der Figuren von Stendhal. Dass sich Fabrizio erst in der Gefangenschaft ernsthaft verliebt, weckt den Freudianer in einem. Offenbar macht manch eine Liebe nicht frei. Und so eine Kerkerhaft ist ja auch etwas Feines – nicht?

Stendhal: Die Kartause von Parma. Roman. Neu übersetzt von Elisabeth Edl. Carl Hanser Verlag, München, 2007. 998 Seiten. 34,90 Euro

Sainte-Beuve

Von Manuel Karasek

Von Charles-Augustin Sainte-Beuves umfangreichem Werk gibt es im Deutschen nicht mal einen Band mit einer Auswahl seiner Texte. Die letzte Ausgabe erschien in der „Dieter’schen Verlagsbuchhandlung zu Leipzig“ 1958 – und erlebte 1969 noch eine zweite Auflage. Lediglich als Kommentator berühmter Werke mag er hierzulande einigen wenigen im Gedächtnis geblieben sein – und als Titel eines reifen Frühwerks von Marcel Proust, der sich auch noch gegen ihn wendet: „Gegen Sainte-Beuve“. In den deutschen Ausgaben von Flauberts „Madame Bovary“ und Ernest Feydeaus „Fanny“ geistert jeweils ein von ihm verfasstes Nachwort herum – gerade mal der Bruchteil eines in Frankreich Regalreihen ausfüllenden Werkes.
Ist der ehemals bedeutende Kritiker, der von 1804 bis 1869 lebte - und solche „Kanonen“ wie Stendhal, Balzac, Baudelaire und Flaubert rezensierte, heutzutage also zu Recht vergessen? Muss man den Grund dafür suchen in dem Umstand, dass Sainte-Beuves Werk keinen Nachhall erzeugte - weil er in die Literaturgeschichte als Kritiker einging, der die Großen seiner Zeit verkannte? Zum Teil entspricht das der Wahrheit – und verfälscht wiederum dieselbe. „Madame Bovary“ beispielsweise lobte Sainte-Beuve, bemerkte das Kühne wie Neue in Flauberts Roman, bemängelte lediglich, dass „das Gute darin sehr ferngehalten“ sei.
„Warum hat Flaubert uns“, so Sainte-Beuve weiter, „nicht eine einzige Figur geschenkt, die imstande wäre, den Leser durch einen guten Anblick zu trösten und zu beruhigen, warum hat er ihm einen einzigen Freund ausgespart?“ Die Passage in der am 4. Mai 1857 erschienenen Rezension trägt die Züge eines bemerkenswert starken Bedauerns, in dem noch etwas anderes mitzuschwingen schien. „Das Werk als Ganzes trägt wohl das Zeichen der Stunde“, schrieb er. Und fügte hinzu: „Sohn und Bruder von angesehenen Ärzten, führt Monsieur Gustave Flaubert die Feder wie andere das Skalpell. Anatomen und Physiologen, euch finde ich überall.“
Es erscheint uns heute als Selbstverständlichkeit, dass Gustave Flaubert auf die Figuren mit den guten Eigenschaften verzichtet hat. Wir begreifen den negativen anthropomorphen Umriss als untrügliches Zeichen der Moderne – und mit Madame Bovary begann die Moderne, durch die evident die zweifelhafte Natur des Menschen sich offenbart. Die Bewunderung zum Kunstwerk Flauberts, das wir empfinden, in Kombination um das Wissen der Geschichte im 20. Jahrhundert scheint uns deutlich zu machen, dass wir uns selbst nicht trauen können. Wir leben ohne Freunde!
Aber wie sah man das 1857 – ohne das überwältigende Hintergrundrauschen vergangener Katastrophen? Sind „Anatomen und Physiologen“ etwa schreckliche Erscheinungen - herzlose Wissenschaftler im Dienste sezierender Lehren? Wenn man von der Kritik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts spricht, wird sie mit unseren heutigen Bedingungen verglichen – ein verständlicher Reflex, der allerdings unterschlägt, dass beispielsweise Sainte-Beuve nicht eben nur moralisierte, als er bei den Autoren seiner Zeit das „Zeichen der Stunde“ sah.
Wissenschafts- und Fortschrittsgläubigkeit waren eine Seite der Medaille Mitte des 19. Jahrhunderts – die Rückseite mit der Positivismuskritik, die sich in „Madame Bovary“ als subversive Hinterfragung der bürgerlichen Werteordnung artikulierte, löste bei Sainte-Beuve eher sein Unbehagen aus. Er definierte die Faszination, welche die „Technik“ im Denken der Menschen ausübte, nicht allein als ökonomisches Phänomen. Die „Technik“ war auch in das Kunstwerk eingedrungen – sie drückte sich im Stil aus. Gerade durch die Lektüre von Flauberts Roman musste er feststellen, wie die Literatur auf die Modernisierungsprozesse nahezu spiegelbildlich reagierte. Sitten der Provinz heißt er ja im Untertitel, was passt. Denn Sainte-Beuve konstatierte, dass der Beschleunigung durch die Technik die Langsamkeit tradierter Strukturen in Verhalten, Denken und Fühlen gegenüber stand.
Für ihn eine Disharmonie, eine Unüberbrückbarkeit. Zwischen den Bedingungen industriellen Fortschritts und individuellen Ethos’ klaffte ein Abgrund. An die wechselhaft gesellschaftlichen Gegebenheiten orientiert, so Sainte-Beuve, muss der Einzelne dauernd Wertigkeiten in Frage stellen. Das Eisenbahnnetz verkürzt nicht nur die Strecken, sondern verändert vor allem das Verhalten und die Beziehungen. Nach Sainte-Beuve war es den Menschen nicht möglich, von heut auf morgen die neue Technik in sein Beziehungsnetz zu integrieren. Die Folge wären Entfremdung, Indolenz, ethische Gleichgültigkeit. Gerade in manchen Schriftstellern seiner Zeit sah er eben jenes Walten der „Anatomen und Physiologen“, die scheinbar Gefallen fanden an der eigenen Unempfindlichkeit gegenüber dem Schicksal ihrer Figuren.
Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass sich der tief im 19. Jahrhundert verwurzelte Sainte-Beuve und der österreichische Schriftsteller und Holocaustüberlebende Jean Amery in ihrer Kritik an Flaubert treffen. Beide operieren aus unterschiedlichen Richtungen, kommen aber kurioserweise zu ähnlichen Ergebnissen. In seinem Roman-Essay „Charles Bovary, Landarzt“ erzählt Amery die Geschichte Flauberts aus der Perspektive Charles Bovarys, des treuen Ehemannes von Emma. Das Besondere an dieser ungewöhnlichen Methode manifestiert sich im letzten Kapitel, wo sich Charles Bovary gegen seinen Schöpfer wendet. Er klagt Flaubert an, mit Emma sympathisiert zu haben. Ihr Scheitern wandle er im Nachhinein in einen Sieg der Kunst über die herrschende bürgerliche Ordnung um.
Aus der Sicht von Amerys Figur demonstriere Flaubert anhand seiner unangepassten Romantikerin, mit den Beschreibungen ihrer unglücklichen Liebschaften und ihrem Selbstmord die Gleichgültigkeit des gesellschaftlichen Umfelds. Der Skandal aber sei, dass der Schriftsteller gegenüber Charles Bovary gerade jene Indolenz walten lässt, die er dem Bürgertum während der ganzen Romanhandlung vorhielt. Charles, der liebe Trottel, der den Tod seiner Frau nicht verwinden kann und wenig später stirbt – der einzig „Gute“ in der Bürgertragödie: Er ist das Opfer einer innovativen Sichtweise. Flaubert darf durchaus als Erfinder jenes Erzählens gelten, in der die gottähnliche Perspektive keine Einmischung in die Handlung von Seiten des Autors erlaubt. Sie wurde zum narrativen Gesetz der Moderne. Gerade daran stoßen sich Amery und Sainte-Beuve, überschneiden sich in ihrer Kritik auf spektakuläre Weise.
Denn Sainte-Beuves literaturkritische Apparatur speiste sich aus der französischen Tradition des 17. und 18. Jahrhunderts. Egal ob es sich um die Briefe Madame de Sevignés oder die Romane Madame de la Fayettes, die Reflexionen eines la Rochefocauld oder Pascals, die Stücke eines Corneilles, Molieres oder Racines handelt – in all diesen Werken gab es aus dem Blickwinkel Sainte-Beuves stets die Einbindung des Autors an das fiktionale Geschehen. Verkürzt dargestellt: Der Schriftsteller konnte, solange Gott an seinem Platz war, Gott nicht sein. Die nun sich säkularisierende „Entfernung“ zwischen Autoren im 19. Jahrhundert und ihren Figuren war für Sainte-Beuve stets Anhaltspunkt seiner Kritik an Balzac, Flaubert und anderen. Er spürte diese Kühle und Distanz als Momente der Diskrepanz auf, die wechselweise ein Licht auf den Zustand der Gesellschaft und ihrer kulturellen Produktion warfen.
Wolf Lepenies Biographie, vor der Verleihung des Friedenspreis’ des Deutschen Buchhandels 2006 an den Autor erschienen und merkwürdig sparsam rezensiert, trägt den Untertitel „Auf der Schwelle zur Moderne“. Besser kann man diesen nicht wählen. Er porträtiert in seinem überaus aufregend zu lesenden Buch Sainte-Beuve als Figur, deren Wirkungszeit von einem dramatischen Paradigmenwechsel geprägt war. Das Erstaunliche dabei ist, dass Lepenies unterhalb seiner fundierten Studie über den französischen Paradekritiker des 19. Jahrhunderts subtextlich die Frage nach heutiger Standortbestimmung stellt – fernab postmoderner Verortungen. Wo, wenn wir den Werdegang Sainte-Beuves verfolgen, befinden wir uns jetzt? Er kann die Frage natürlich nicht direkt beantworten, er löst aber das Problem über Umwege. Allein schon die Wahl seines Sujets verdeutlicht seine Absicht: Er stellt einen Autor in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen, der keine „Schule“ gründete – und verweist damit auf einen paradoxen Aspekt der Moderne.
Den offensichtlichen Widerspruch jener Epoche erkennt Lepenies entlang Sainte-Beuves Denkens als Kernproblem: Die Unversöhnlichkeit zwischen rasanten technischen Fortschritt und den ontologischen Bedingungen des Menschen wird heute noch unter der Schwerkraft einer Zuspitzung betrachtet. In der mehr oder weniger eingeengten Sichtweise ist der Mensch ein Schauspieler, innerlich gerüstet wie ein Hoplit – von außen betrachtet wartet er aber auf einen Bahnhof auf seinen Zug. Das bedeutet: In den letzten zweihundertfünfzig Jahren begriff er sich als aufgeklärt und erfuhr sich gleichzeitig als Barbar. Das lässt selbstverständlich an Heideggers Kritik an die Moderne denken. Doch: „Nichts ist komplizierter als ein Barbar“, schrieb Gustave Flaubert 1863 Sainte-Beuve, nachdem dieser „Salammbó“ rezensiert hatte.
Sainte-Beuve, so Lepenies im letzten Kapitel seiner Biographie, ist nicht Verkünder dieser Engführung, nicht vorausschauender Philosoph im Dienste der Warnung oder ein verkannter Montaigne seiner Zeit – der übrigens als heimliches Vorbild des Literaturkritikers ausgemacht wird. Also ist Sainte-Beuve nicht bedeutend? – so müsste man schlussfolgern. Gut, warum aber dann 580 Seiten jemanden widmen, der zweitrangig ist? Weil – das liegt die Lektüre nahe - das Verständnis von Erstrangigkeit für Lepenies im Zusammenhang mit der Arbeit über Sainte-Beuve ein Problem der Moderne darstellt.
Aus dieser biographischen Binnenbetrachtung heraus gewinnt man den Eindruck, dass sich die Moderne trotz oder gerade wegen ihrer wackligen Parameter Gewissheit schaffen musste, es gäbe Konstanten – Größenordnungen, an denen nicht zu rütteln wäre. Jeder Kanon, in welcher Kunst auch immer, ist schließlich Spiegelbild dieses Bedürfnisses. Das heißt für Wolf Lepenies nicht, dass Gustave Flaubert oder ein anderer „Großer“ unter etwaig veränderten Maßstäben etwas von seinen Glanz verlieren würde. Das ist überhaupt nicht der Fall.
Doch Großbegriffe helfen einfach nicht, wenn man das Panorama als etwas erkannt hat, was es ist: paradox und bisweilen unüberblickbar. Wolf Lepenies hat mit Sainte-Beuve also nicht einen zweitrangigen Autor detailreich nachgezeichnet, sondern einen spannenden, geistreichen und klugen Kopf seiner Zeit mit einer eindrucksvollen Obsession portraitiert – einen Mann, dessen Analysen in unsere hineinreichen. Dass dieser übrigens wundervoll schreiben konnte und ein großer Leser – ergo dann doch bedeutend war, offenbaren die zahlreichen von Lepenies selbst übersetzten Passagen in seinem Buch. Einer seiner Artikel begann Sainte-Beuve mit dem schönen Satz: „Wir haben schon lange nicht über Vergil gesprochen.“ - und wir lange nicht über Sainte-Beuve.

Wolf Lepenies: Sainte-Beuve. Auf der Schwelle zur Moderne. Dtv, München, 2006. 600 Seiten. 19, 50 Euro