Montag, 26. Januar 2009

Sainte-Beuve

Von Manuel Karasek

Von Charles-Augustin Sainte-Beuves umfangreichem Werk gibt es im Deutschen nicht mal einen Band mit einer Auswahl seiner Texte. Die letzte Ausgabe erschien in der „Dieter’schen Verlagsbuchhandlung zu Leipzig“ 1958 – und erlebte 1969 noch eine zweite Auflage. Lediglich als Kommentator berühmter Werke mag er hierzulande einigen wenigen im Gedächtnis geblieben sein – und als Titel eines reifen Frühwerks von Marcel Proust, der sich auch noch gegen ihn wendet: „Gegen Sainte-Beuve“. In den deutschen Ausgaben von Flauberts „Madame Bovary“ und Ernest Feydeaus „Fanny“ geistert jeweils ein von ihm verfasstes Nachwort herum – gerade mal der Bruchteil eines in Frankreich Regalreihen ausfüllenden Werkes.
Ist der ehemals bedeutende Kritiker, der von 1804 bis 1869 lebte - und solche „Kanonen“ wie Stendhal, Balzac, Baudelaire und Flaubert rezensierte, heutzutage also zu Recht vergessen? Muss man den Grund dafür suchen in dem Umstand, dass Sainte-Beuves Werk keinen Nachhall erzeugte - weil er in die Literaturgeschichte als Kritiker einging, der die Großen seiner Zeit verkannte? Zum Teil entspricht das der Wahrheit – und verfälscht wiederum dieselbe. „Madame Bovary“ beispielsweise lobte Sainte-Beuve, bemerkte das Kühne wie Neue in Flauberts Roman, bemängelte lediglich, dass „das Gute darin sehr ferngehalten“ sei.
„Warum hat Flaubert uns“, so Sainte-Beuve weiter, „nicht eine einzige Figur geschenkt, die imstande wäre, den Leser durch einen guten Anblick zu trösten und zu beruhigen, warum hat er ihm einen einzigen Freund ausgespart?“ Die Passage in der am 4. Mai 1857 erschienenen Rezension trägt die Züge eines bemerkenswert starken Bedauerns, in dem noch etwas anderes mitzuschwingen schien. „Das Werk als Ganzes trägt wohl das Zeichen der Stunde“, schrieb er. Und fügte hinzu: „Sohn und Bruder von angesehenen Ärzten, führt Monsieur Gustave Flaubert die Feder wie andere das Skalpell. Anatomen und Physiologen, euch finde ich überall.“
Es erscheint uns heute als Selbstverständlichkeit, dass Gustave Flaubert auf die Figuren mit den guten Eigenschaften verzichtet hat. Wir begreifen den negativen anthropomorphen Umriss als untrügliches Zeichen der Moderne – und mit Madame Bovary begann die Moderne, durch die evident die zweifelhafte Natur des Menschen sich offenbart. Die Bewunderung zum Kunstwerk Flauberts, das wir empfinden, in Kombination um das Wissen der Geschichte im 20. Jahrhundert scheint uns deutlich zu machen, dass wir uns selbst nicht trauen können. Wir leben ohne Freunde!
Aber wie sah man das 1857 – ohne das überwältigende Hintergrundrauschen vergangener Katastrophen? Sind „Anatomen und Physiologen“ etwa schreckliche Erscheinungen - herzlose Wissenschaftler im Dienste sezierender Lehren? Wenn man von der Kritik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts spricht, wird sie mit unseren heutigen Bedingungen verglichen – ein verständlicher Reflex, der allerdings unterschlägt, dass beispielsweise Sainte-Beuve nicht eben nur moralisierte, als er bei den Autoren seiner Zeit das „Zeichen der Stunde“ sah.
Wissenschafts- und Fortschrittsgläubigkeit waren eine Seite der Medaille Mitte des 19. Jahrhunderts – die Rückseite mit der Positivismuskritik, die sich in „Madame Bovary“ als subversive Hinterfragung der bürgerlichen Werteordnung artikulierte, löste bei Sainte-Beuve eher sein Unbehagen aus. Er definierte die Faszination, welche die „Technik“ im Denken der Menschen ausübte, nicht allein als ökonomisches Phänomen. Die „Technik“ war auch in das Kunstwerk eingedrungen – sie drückte sich im Stil aus. Gerade durch die Lektüre von Flauberts Roman musste er feststellen, wie die Literatur auf die Modernisierungsprozesse nahezu spiegelbildlich reagierte. Sitten der Provinz heißt er ja im Untertitel, was passt. Denn Sainte-Beuve konstatierte, dass der Beschleunigung durch die Technik die Langsamkeit tradierter Strukturen in Verhalten, Denken und Fühlen gegenüber stand.
Für ihn eine Disharmonie, eine Unüberbrückbarkeit. Zwischen den Bedingungen industriellen Fortschritts und individuellen Ethos’ klaffte ein Abgrund. An die wechselhaft gesellschaftlichen Gegebenheiten orientiert, so Sainte-Beuve, muss der Einzelne dauernd Wertigkeiten in Frage stellen. Das Eisenbahnnetz verkürzt nicht nur die Strecken, sondern verändert vor allem das Verhalten und die Beziehungen. Nach Sainte-Beuve war es den Menschen nicht möglich, von heut auf morgen die neue Technik in sein Beziehungsnetz zu integrieren. Die Folge wären Entfremdung, Indolenz, ethische Gleichgültigkeit. Gerade in manchen Schriftstellern seiner Zeit sah er eben jenes Walten der „Anatomen und Physiologen“, die scheinbar Gefallen fanden an der eigenen Unempfindlichkeit gegenüber dem Schicksal ihrer Figuren.
Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass sich der tief im 19. Jahrhundert verwurzelte Sainte-Beuve und der österreichische Schriftsteller und Holocaustüberlebende Jean Amery in ihrer Kritik an Flaubert treffen. Beide operieren aus unterschiedlichen Richtungen, kommen aber kurioserweise zu ähnlichen Ergebnissen. In seinem Roman-Essay „Charles Bovary, Landarzt“ erzählt Amery die Geschichte Flauberts aus der Perspektive Charles Bovarys, des treuen Ehemannes von Emma. Das Besondere an dieser ungewöhnlichen Methode manifestiert sich im letzten Kapitel, wo sich Charles Bovary gegen seinen Schöpfer wendet. Er klagt Flaubert an, mit Emma sympathisiert zu haben. Ihr Scheitern wandle er im Nachhinein in einen Sieg der Kunst über die herrschende bürgerliche Ordnung um.
Aus der Sicht von Amerys Figur demonstriere Flaubert anhand seiner unangepassten Romantikerin, mit den Beschreibungen ihrer unglücklichen Liebschaften und ihrem Selbstmord die Gleichgültigkeit des gesellschaftlichen Umfelds. Der Skandal aber sei, dass der Schriftsteller gegenüber Charles Bovary gerade jene Indolenz walten lässt, die er dem Bürgertum während der ganzen Romanhandlung vorhielt. Charles, der liebe Trottel, der den Tod seiner Frau nicht verwinden kann und wenig später stirbt – der einzig „Gute“ in der Bürgertragödie: Er ist das Opfer einer innovativen Sichtweise. Flaubert darf durchaus als Erfinder jenes Erzählens gelten, in der die gottähnliche Perspektive keine Einmischung in die Handlung von Seiten des Autors erlaubt. Sie wurde zum narrativen Gesetz der Moderne. Gerade daran stoßen sich Amery und Sainte-Beuve, überschneiden sich in ihrer Kritik auf spektakuläre Weise.
Denn Sainte-Beuves literaturkritische Apparatur speiste sich aus der französischen Tradition des 17. und 18. Jahrhunderts. Egal ob es sich um die Briefe Madame de Sevignés oder die Romane Madame de la Fayettes, die Reflexionen eines la Rochefocauld oder Pascals, die Stücke eines Corneilles, Molieres oder Racines handelt – in all diesen Werken gab es aus dem Blickwinkel Sainte-Beuves stets die Einbindung des Autors an das fiktionale Geschehen. Verkürzt dargestellt: Der Schriftsteller konnte, solange Gott an seinem Platz war, Gott nicht sein. Die nun sich säkularisierende „Entfernung“ zwischen Autoren im 19. Jahrhundert und ihren Figuren war für Sainte-Beuve stets Anhaltspunkt seiner Kritik an Balzac, Flaubert und anderen. Er spürte diese Kühle und Distanz als Momente der Diskrepanz auf, die wechselweise ein Licht auf den Zustand der Gesellschaft und ihrer kulturellen Produktion warfen.
Wolf Lepenies Biographie, vor der Verleihung des Friedenspreis’ des Deutschen Buchhandels 2006 an den Autor erschienen und merkwürdig sparsam rezensiert, trägt den Untertitel „Auf der Schwelle zur Moderne“. Besser kann man diesen nicht wählen. Er porträtiert in seinem überaus aufregend zu lesenden Buch Sainte-Beuve als Figur, deren Wirkungszeit von einem dramatischen Paradigmenwechsel geprägt war. Das Erstaunliche dabei ist, dass Lepenies unterhalb seiner fundierten Studie über den französischen Paradekritiker des 19. Jahrhunderts subtextlich die Frage nach heutiger Standortbestimmung stellt – fernab postmoderner Verortungen. Wo, wenn wir den Werdegang Sainte-Beuves verfolgen, befinden wir uns jetzt? Er kann die Frage natürlich nicht direkt beantworten, er löst aber das Problem über Umwege. Allein schon die Wahl seines Sujets verdeutlicht seine Absicht: Er stellt einen Autor in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen, der keine „Schule“ gründete – und verweist damit auf einen paradoxen Aspekt der Moderne.
Den offensichtlichen Widerspruch jener Epoche erkennt Lepenies entlang Sainte-Beuves Denkens als Kernproblem: Die Unversöhnlichkeit zwischen rasanten technischen Fortschritt und den ontologischen Bedingungen des Menschen wird heute noch unter der Schwerkraft einer Zuspitzung betrachtet. In der mehr oder weniger eingeengten Sichtweise ist der Mensch ein Schauspieler, innerlich gerüstet wie ein Hoplit – von außen betrachtet wartet er aber auf einen Bahnhof auf seinen Zug. Das bedeutet: In den letzten zweihundertfünfzig Jahren begriff er sich als aufgeklärt und erfuhr sich gleichzeitig als Barbar. Das lässt selbstverständlich an Heideggers Kritik an die Moderne denken. Doch: „Nichts ist komplizierter als ein Barbar“, schrieb Gustave Flaubert 1863 Sainte-Beuve, nachdem dieser „Salammbó“ rezensiert hatte.
Sainte-Beuve, so Lepenies im letzten Kapitel seiner Biographie, ist nicht Verkünder dieser Engführung, nicht vorausschauender Philosoph im Dienste der Warnung oder ein verkannter Montaigne seiner Zeit – der übrigens als heimliches Vorbild des Literaturkritikers ausgemacht wird. Also ist Sainte-Beuve nicht bedeutend? – so müsste man schlussfolgern. Gut, warum aber dann 580 Seiten jemanden widmen, der zweitrangig ist? Weil – das liegt die Lektüre nahe - das Verständnis von Erstrangigkeit für Lepenies im Zusammenhang mit der Arbeit über Sainte-Beuve ein Problem der Moderne darstellt.
Aus dieser biographischen Binnenbetrachtung heraus gewinnt man den Eindruck, dass sich die Moderne trotz oder gerade wegen ihrer wackligen Parameter Gewissheit schaffen musste, es gäbe Konstanten – Größenordnungen, an denen nicht zu rütteln wäre. Jeder Kanon, in welcher Kunst auch immer, ist schließlich Spiegelbild dieses Bedürfnisses. Das heißt für Wolf Lepenies nicht, dass Gustave Flaubert oder ein anderer „Großer“ unter etwaig veränderten Maßstäben etwas von seinen Glanz verlieren würde. Das ist überhaupt nicht der Fall.
Doch Großbegriffe helfen einfach nicht, wenn man das Panorama als etwas erkannt hat, was es ist: paradox und bisweilen unüberblickbar. Wolf Lepenies hat mit Sainte-Beuve also nicht einen zweitrangigen Autor detailreich nachgezeichnet, sondern einen spannenden, geistreichen und klugen Kopf seiner Zeit mit einer eindrucksvollen Obsession portraitiert – einen Mann, dessen Analysen in unsere hineinreichen. Dass dieser übrigens wundervoll schreiben konnte und ein großer Leser – ergo dann doch bedeutend war, offenbaren die zahlreichen von Lepenies selbst übersetzten Passagen in seinem Buch. Einer seiner Artikel begann Sainte-Beuve mit dem schönen Satz: „Wir haben schon lange nicht über Vergil gesprochen.“ - und wir lange nicht über Sainte-Beuve.

Wolf Lepenies: Sainte-Beuve. Auf der Schwelle zur Moderne. Dtv, München, 2006. 600 Seiten. 19, 50 Euro

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