Sonntag, 31. Mai 2009

Dietmar Dath: Die salzweißen Augen

Von Manuel Karasek

Pornographie ist eigentlich ein dankbares Thema für einen grundlegenden Diskurs. Doch die tauglichen Publikationen dazu haben mehr oder weniger Seltenheitswert. Eines der Kapitel in Dietmar Daths 2005 erschienenem Buch „Die salzweißen Augen“ ist überschrieben mit „Brief über die Pornographie und Verträge“ - und auch sonst geht es hier um eindeutiges Material. Der bemerkenswerte zentrale Denkmoment im Text hat schließlich mehr als die Gestalt einer These aus dem Geiste der Behauptung; die Beweisführung verfügt über etwas Zwingendes nahe an der Empirie. Dietmar Dath, geboren 1971 und ehemals redaktionell tätig in der Spex und im Feuilleton der FAZ, sieht Produkte der pornographischen Industrie abseits des belustigten, aus der Richtung Boulevard und Comedian schlagenden Blicks. Für den Autor sind Hardcore-Produktionen vor allem Ausdruck einer gesamtgesellschaftlichen Kapitulation vor dem Erbe der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Verkürzt dargestellt lautet seine Kernthese: Pornographie - und auch andere Produkte der Kulturindustrie wie Splatter-Movies, Horrorromane und Heavy-Metal-Musik – ist (sind) die ästhetische Reaktion auf ein gescheitertes Gleichheits- und Freiheitspostulat.
Die Verknüpfung zu 1789 mit einem Aspekt der modernen Kulturindustrie ist natürlich erläuterungsbedürftig. Sie lässt sich zunächst über die antiquiert wirkende Form des Werkes beantworten. Die Nähe zum 18. Jahrhundert sucht (und findet) Dath - der schriftstellerisch rasend und rasch seine Erzeugnisse in die merkwürdig langsame Welt katapultiert – in dem alten Format des Briefromans, den ein junger Mann von etwa 30 Jahren (David) einer ehemaligen, angebeteten Schulfreundin (Sonja) schreibt. Es gibt einen narrativen Zweig, der die Geschichte vom Aussteiger Paul erzählt, der sich in „einem Kuhdorf“ in eine scheinbar debile, dafür aber umso schönere "Bauerntochter" verliebt – einen Strang, den Dath in seinem zwei Jahre später publizierten Roman „Dirac“ weiterspinnt.
Auch der Untertitel des knapp 200seitigen Romans („Briefe über Drastik und Deutlichkeit“) schließt an diese Verknüpfung an und verweist auf die Terminologie. So fasst der fiktive Verfasser ein Teil der populären Kultur – Porno, Horror etc. / und Elemente davon, die beispielsweise in Hollywoodfilmen oder in der Fernsehkultur zirkulieren - über den Begriff „Drastik“ – eine brillante Begriffswahl in einem groß angelegten Essay; der eine Dynamik und Energie aufzuweisen hat, die die Hintergrundgeschichte um David, Sonja und Paul im Vergleich substantiell ein wenig dünn wirken lässt.
Dass hier aber - oberflächlich gesehen - die Kombination von Vorstellungskraft und Theorie scheinbar nicht gelingt – die Liebesgeschichten von David und Paul haben einen zu flachen Atem, mag man monieren - , hat einen skurrilen Reiz. Den begreift man über die vom Autor gelegten Pfade: narrative Umwege, Sackgassen, Einbahnstrassen im Dienste theoretischer Erörterungen. Denn Dath erzählt zwar nicht die Geschichte von Hölderlin, Fichte und Hegel, die als junge Gymnasiasten im Herbst 1789 im Schwabenlande gemeinsam einen Baum als Symbol für ihre Hoffnungen, die sie in die französische Revolution setzten, pflanzten. Und er berichtet auch nicht von der Wende 1989, die mit den Abiturprüfungen der Protagonisten zusammenfallen müsste. Aber er macht deutlich, dass Paul und David ähnliche Setzlinge in ihren weltanschaulichen Boden setzen; und was dann sprießt, sieht im Ergebnis bizarr aus: Daths Text ist nämlich die Beschreibung aus einem intellektuellen Baumhaus heraus, dass das Blühen einer monströsen, Fleisch fressenden Pflanze beobachtet: Es handelt sich um den verbogenen Zugriff der Moderne auf alte zentrale Ideen der Aufklärung. Das ist Daths Thema.
Interessant wird sein Diskurs um Sex und Horrorundergroundkultur schließlich, wenn man ihn in drei Teile bricht. Der erste - der textnaheste - Aspekt kreist um den Befund eines ehemals postulierten Gleichheitsprinzips, an den die jetzige Moderne nicht mehr glauben kann. Wenn beispielsweise die Attribute der 68er von der Befreiung des Sexes letztendlich nur in der Warenwelt der Porno-Industrie zu finden sind, heißt das - so Dath, dass die Menschen nicht im gleichen Maße und in freier Weise über ihr Verlangen und deren Befriedigung verfügen. Im Gegenteil: Sie entpolitisieren die Sehnsüchte als Konsumenten von Pornografie. Und weiter bedeutet das, dass sie nicht mehr daran glauben, dass Forderungen in einer solchen Richtung überhaupt etwas bringen. Sie wissen um die unwiderlegbare Kopplung von Sex und Kapital. Ähnlich lautet Daths Diagnose im Zusammenhang mit Splatter-Movies und Heavy-Metal-Musik.
Der zweite Aspekt wird interessant durch das Hintergrundrauschen der Debatte, die Houellebecqs Romane vor zehn Jahren auslösten – die Dath nirgendwo zitiert, aber auch nicht zu erwähnen braucht (man kommt von selbst drauf). Das Fehlschlagen der sexuellen Revolution von 1968 bedeutete – wir erinnern uns - für Houellebecqs Romanfiguren vor allem zynischer Eskapismus, ein Arrangement mit den kapitalistischen Strukturen. Auf der einfachsten Metaebene liest sich das dann so: Dass der Mensch selbst eine so schöne Angelegenehieit wie die Liebe und den Sex von Grund auf hässlich gestaltet. Er schafft ergo nichts Schönes. Und für ein so missratenes Wesen gibt es kein Medikament. Dath entwirft zumindest die Umrisse eines Rezeptes, das man für fragwürdig oder bedenkenswert halten kann. Sicherlich setzt Dath (beziehungsweise seine Hauptfigur) den Freiheitsbegriff (der unmittelbar an ein schwer zu definierendes Gleichheitsverständnis anschließt) absolut, ohne diesen von seinen eigenen Künstlerbedingungen zu lösen. Die Lösungsvorschläge bleiben insofern am Atavismus moderner Gesellschaften hängen. Das wäre eine Möglichkeit kritischer Erwiderung. Aber diese Art von Kritik übersieht dann gerne, dass der Charakter des Textes über sein scharfes kritisches Potential nicht hinausgehen kann, weil ein gesellschaftspolitischer Gesamtentwurf den Rahmen eines solchen Briefromans sprengen würde. Holt man zum großen Wurf aus, macht man eher etwas, dass beispielsweise an die große Systemkritik von Bourdieu oder Marx anschließt.
Der dritte Aspekt hängt mit den theoretischen Überlegungen selbst zusammen. Im systematischen Denken gibt es immer einen oder mehrere Augenblicke, in dem sich dieses von seinen Gegenstand löst. Aus Entwurf wird Emphase. Die anfängliche Schwerfälligkeit der Konzeption bekommt plötzlich und unerwartet eine Raum erobernde Schwerelosigkeit. Das Attraktive an Daths Briefroman ist gerade dieses sich in die Höhe schwingen - oder anders ausgedrückt: Seine unbedingte Anteilnahme am Stoff. Nüchterner dargestellt kann man das Gelingen des Werkes auch in dem Umstand finden, dass Theorien über popkulturelle Phänomene eine schwere Übung darstellen - und Dath die Aufgabe glänzend löst. Thomas Groß, der exzellente Kritiker von Popmusik (ehemals taz, dann in der Zeit), hat in dem Vorwort zu „Berliner Barock“ mal geschrieben, seine Arbeit gleiche oftmals der Kaffeesatzleserei. Natürlich ist das eine beabsichtigte Unschärfe. Daths Buch jedenfalls gelingt es, eine Schneise durch schwieriges Material zu schlagen – um am Ende glaubt man nicht nur eine Lichtung zu sehen, sondern eine Siedlung.
Dennoch bleibt man auch ein wenig skeptisch, weil dieses Denken frontale idealistische Züge trägt, wenig Anteile an Pragmatismus. So jedenfalls die Kritik in der NZZ vor drei Jahren. Jedoch: Das Fehlen von Ironie (oder Selbstironie) kann man Dath eigentlich nicht vorwerfen.

Dietmar Dath: Die salzweißen Augen. Vierzehn Briefe über Drastik und Deutlichkeit. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005. 19, 80 Euro

Freitag, 1. Mai 2009

Chaim Noll: Der goldene Löffel

Von Manuel Karasek

Zwanzig Jahre ist es her, seitdem der antifaschistische Schutzwall fiel, die betongraue Gefängniswand der DDR. Nur wenige Jahre später folgten die literarischen Insiderberichte der vorwiegend jungen (und letzten) Generation des ehemaligen deutschen Arbeiter- und Bauernstaates. Die Literaturkritik erwartete in jenen Jahren viel von diesen Schreibern, eigentlich viel zu viel. Lustiges gab es schließlich von Brussig, episches von Jirgl, Schulze, Havemann und Tellkamp: Türme der Erinnerungen.
Chaim Nolls Roman „Der goldene Löffel“ erschien im Frühjahr 89, in der BRD - und wurde wenig beachtet. Gleichwohl das Buch die späten Siebziger Jahre in Ost-Berlin thematisiert, ist es ein Text über die Wendezeit – gerade weil der Roman die ständige gesellschaftliche Agonie der DDR auf gerade mal knapp 250 Seiten auf den Punkt bringt. Adam heißt der Ich-Erzähler in der jetzt beim Verbrecher Verlag erschienenen Neuauflage. Noll lässt ihn die Geschichte eines jungen Mannes aus privilegierten Verhältnissen erzählen, der Kunst studiert, sich in eine verheiratete Frau verliebt und schließlich die gestanzte Karriere als Parteimitglied aufgibt. Das scheinbar Unaufregende und Beispielhafte dieses Werdegangs und die schier unglaublich giftige Öde in solchen DDR-Biographien: Man meint all dies zu kennen, stellt aber schnell fest, dass es Noll schafft, diese Elemente in aufregende Motive zurück zu verwandeln.
Das hängt unter anderem mit der knappen Darstellung zusammen. Allein für die Beschreibung der Beziehung Adams zu seinem Vater benötigt Noll nur wenige Seiten. Auf diesen gelingt es ihm allerdings, komplexe Vorgänge klar und spannend zu schildern. Der Vater - ein renommierter Soziologe – verteidigt bei einem Disput den gesellschaftspolitischen Entwurf der DDR, ist aber innerlich längst ausgebrannt von der zermürbenden Trägheit und intriganten Atmosphäre der Apparate. Der Sohn durchschaut die Strategien im Dienste komplizierter Leugnungen, die die gegenseitige Befremdung jedoch verstärken.
Es gibt mehrere solcher Schlüsselszenen im Roman, in denen Noll die Beziehungsmuster im Alltagskontext der DDR beschreibt. Ihre Anziehungskraft beziehen sie auch aus der Leichtigkeit, mit der der Autor ein Paradigma der späten DDR herausarbeitet: Die ungeheure Mühe, die es der Vätergeneration gekostet hat, das sozialistische Modell auf die Beine zu stellen; und die unausgesprochene Scham vor den Jüngeren, weil offensichtlich ist, dass das ganze Konzept kurz vor dem Scheitern steht.
Ein immer wiederkehrendes Motiv in „Der goldene Löffel“ ist die brüchige Selbstgefälligkeit der Älteren, ihr Nachdruck, mit der sie ständig ihren Erfahrungs- und Wissensvorsprung vor dem jugendlichen Ich-Erzähler zum Besten geben. In Wahrheit – und das durchschaut Noll klug – entrollt sich da eher ein absurdes Abhängigkeitsverhältnis, weil nach Außen hin die DDR sich als Staat der Arbeiter und Bauern präsentiert, im Innern jedoch dynastisch gegliedert ist. Besonders deutlich zeigt sich dieses Verhältnis der verschobenen Kräfte in den Gesprächen, die Adam mit dem Kunstprofessor Knoch führt - der vielleicht am stärksten ausgeleuchteten Figur im Roman. Man verfolgt mit Unbehagen seine Monologe.
Doch man ist wie Adam einem berlinernden Besserwisser voller Ressentiments ausgesetzt, der nicht aufhören kann, darauf hinzuweisen, wie er als unterprivilegiertes Arbeiterkind sich hat hocharbeiten müssen – und der dabei nicht vergisst, den Ich-Erzähler daran zu erinnern, dass den jungen Burschen heute alles in den Schoß gelegt wird. Adam ist in den Augen der Älteren ein Kronprinz. In seiner Perspektive hat diese Rolle aber etwas Pervertiertes. Er ist ein Hamlet, dem sogar kurzfristig Rebellion zugestanden wird, der dann allmählich die immer stärker werdenden institutionellen Kastrationskräfte zu spüren bekommt. Diese komplexen Vorgänge schildert Noll mit einem schwarzen Charme. Und er hält sich mit Deutungen zurück, was zur Folge hat, dass die sparsam dosierten Beschreibungen die verrosteten Herrschaftsverhältnisse viel schärfer einfangen als lange Erklärungen oder komplizierte Introspektiven.
Das sind einige Gründe, warum dieser zwanzig Jahre alte Roman heute noch so gut funktioniert. Aber da sind noch ein paar mehr. Zum einen begreift der Autor den Werdegang seiner Hauptfigur als Negativ eines Bildungsromans. Das Schauspiel vom Weg des jungen Menschen ins soziale Zentrum oder Abseits kann in einer Gesellschaft, die mehrheitlich keinen positiven Bezug zum eigenen Land findet, nicht stattfinden. Wo alles stagniert, lebt es sich wie in einer Fotografie.
Zum anderen verfügt Noll im Gegensatz zu Uwe Tellkamp oder Ingo Schulze über ein sicheres dramaturgisches Gespür. Statt literarischer Abarbeitung, die achthundert Seiten in Anspruch nimmt, hat man hier ein vor allem lesenswertes Buch vor sich, dem es gelingt, mehrere Aspekte des Dramas DDR darzustellen.

Chaim Noll: Der goldene Löffel. Roman. 246 Seiten. Verbrecher Verlag. Berlin 2009. 13 €