Freitag, 13. Februar 2009

Elias Canetti: Das autobiographische Werk

Von Manuel Karasek

Nahezu beängstigend schön wirken die autobiographischen Texte Canettis, die zwischen 1975 und 1985 als Einzelbände veröffentlicht wurden. Egal ob es sich um „Die gerettete Zunge“, „Die Fackel im Ohr“ oder „Das Augenspiel“ handelt; alle drei Bücher, die zusammen gelesen werden sollten, so als handelte es sich um einen einzigen Band – erscheinen wie ein Phänomen. Das hat natürlich (aber nicht allein) mit Canettis Herkunft zu tun: Spross wohlhabender Spaniolen, die an der rumänisch-bulgarischen Grenze lebten, die Eltern Bewunderer der deutschsprachigen Kultur des österreichischen Kaiserreiches, Onkel und Vetter erfolgreiche Unternehmer mit Sitz in Manchester. Im Rückblick, auch weil der Holocaust einen Großteil der sephardischen Bevölkerung vernichtete, verursacht diese Lebens- und Selbstbeschreibung eine Nähe zur Legende, gleichwohl dies nie Absicht des Autors war; und der Text nie den Ton eines Märchens annimmt.
Doch man kann nicht umhin, eine Evidenz festzustellen, die sich aus dem Bewusstwerden der Shoa speist, gleichwohl Canetti die Vernichtung nur am Rande thematisiert. Eine Wirkung, die an Peter-Andre Alts Biographie über Franz Kafka „Der ewige Sohn“ erinnert, die ebenfalls die untergegangene Welt der assimilierten jüdischen Bevölkerung Osteuropas beschreibt. Canettis drei ‚Lebensromane’ verursachen deshalb auch einen ungewohnt unsentimentalen Moment der Andacht – und einen nahe dem Ketzerischen befindlichen Kitzel. 970 Seiten lang dauert diese Lebensreise an, die die Jahre 1905 bis 1935 behandelt. Es ist – wenn man die Betrachtung erstmal auf die Oberfläche des Plots beschränkt - eine ungewöhnliche Konfrontation mit einer narrativen Dynamik und Energie, verfasst von einem 70jährigen, dessen Werk – wen wundert’s! – manche Publikationen der Heutigen greisenhaft aussehen lässt.
Sicherlich, die erzählerische Wucht ist zunächst das Ergebnis der eindringlichen Schilderung eines Familiendramas. Überraschend stirbt der Vater mit 32 Jahren an einem Infarkt. Die Mutter, eine junge Witwe mit drei kleinen Söhnen, baut zu ihrem ältesten Sohn Elias eine komplizierte Ersatzbeziehung auf, in der er in die Rolle des verstorbenen Vaters schlüpft. Die Familie zieht von Manchester nach Wien, von dort später nach Zürich, dann – als Elias Canetti volljährig wird – ohne ihn nach Paris. Die großartige Darstellung der ambivalenten Mutter-Sohn-Beziehung, die im Zentrum des ‚ersten Teils’ („Die gerettete Zunge“) steht, mag psychoanalytisch geprägte Interpretationen hervorrufen, ist aber gerade gegen standardisierte Deutungen aus dieser Richtung geschrieben.
Das schwierige Verhältnis zur Mutter erweist sich schließlich mehr als Ausgangspunkt für einen bedeutenden Aspekt von Canettis Weltanschauung. Bei seiner Arbeit zu seinem einzigen Roman „Die Blendung“ ging Canetti in den frühen 30er Jahren – er lebte zu der Zeit in Wien - von der spekulativen Idee aus, dass sich die Mitglieder moderner Gesellschaften von Grund auf missverstehen. Er begriff den Gedanken nicht als das eklatante Fehlen von Solidarität und Altruismus. Mehr verwies er auf eine negativ gefärbte, dialektische Konstante in der individuellen Prägung modernen Menschseins. Aus Canettis Sicht müssen sich die Menschen missverstehen - und erst der damit in Gang gelegte Prozess offenbart die Entfesselungskräfte der Gesellschaft: Ihren konstruktiven Charakter oder ihren Hang zur Destruktion.
Zu welcher Seite damals die Wagschale längst gekippt war, war Canetti fernab kitschiger Prophetenposen klar. Gerade deswegen schenkt er im zweiten und dritten Teil seiner Autobiographie zwei Personen großen Raum, die den Gegensatz zum gewaltakzentuierten Vorlauf des Zweiten Weltkrieges bilden. Dass dabei der an Muskelschwund leidende Thomas Marek und der Fabrikantensohn Dr. Sonne, der einen großen Teil seines Vermögens verschenkt – man erinnert sich da an Wittgenstein, in den Focus geraten, hat eine innere Logik. Während der Gang der Dinge unheilvoll voranschreitet und alle mehr oder weniger zur kollektiven Tragödie beitragen, stehen der fast bewegungsunfähige Philosophiestudent Marek und der Hebräischgelehrte Sonne (der nicht eine Zeile schreibt, geschweige denn veröffentlicht) für eine Handlungsverweigerung aus dem Geiste des Begreifens. Weil sie eben die Zeichen der Zeit verstehen, unterstreichen diese Außenseiter im sich widersprechenden Sinne Canettis Befund.
Dass sich ihre Eigendynamik im Stillstand artikuliert, steht auch nur scheinbar im Widerspruch zur Neigung Canettis, hingerissen von der Arbeit an den zahlreichen Porträts zu sein, die ohnehin das Format seiner drei autobiographischen Bücher prägen. Ein Besuch in Berlin 1926, in dem ihm die ganze damalige künstlerische VIP Lounge von Grosz bis Brecht begegnete, mündet in einen Ekel gegenüber Prominenz und Narzissmus. Dass dabei Canettis Prosa alles andere als langsam und uneitel daherkommt, spricht für den Zorn (und damit für die Empfänglichkeit), die die Nähe zum Kulturbetrieb bei ihm produziert: Marek und Dr. Sonne (aber auch die Mutter) sind in Canettis Wahrnehmung dagegen singuläre Produkte außerhalb des Literaturmarktes, deswegen gerade versehen mit einem Echtheitszertifikat von hohem symbolischen Gehalt. Aber ihre Wirksamkeit kann erst in der Gegenüberstellung zu jenen Professionellen – ergo den Kulturproduzenten - wahrgenommen werden.
So pendelt Canettis Prosa stets zwischen den Polen: Hier das Eigentliche, Unverfälschte. Da das Medusenhaupt mit seinen Schlangen aus Ehrgeiz und Geltungsbewusstsein. Der Text nimmt dabei aus dem Rückblick heraus die Perspektive desjenigen an, der aus großer Höhe über die Vergangenheit fliegt. Dass es dabei um die Erfahrung von sozialer Natureigengesetzlichkeit und ihrer scheinbaren Aufhebung geht, ist die Metaebene, die das Vergängliche im Visier hat. Denn als Schwerkraft, die ja buchstäblich von am Rollstuhl gefesselten Thomas Marek ausgeht, begreift Canetti dessen Zustand; und versteht ihn überdies als geglückte Verhinderung jener Entfaltungskräfte, die im Dienste der Eigeninteressen stehen.
Expliziter und plastischer: Für jeden Löffel Nahrung braucht Marek eine helfende Hand, mit der Zunge blättert er die Seiten des Bandes von Spinoza oder Husserl um; und die Frauen, von denen eine ihn schließlich heiratet, bemerken in der Konfrontation mit diesen Schwerbehinderten unerwartet ihren Altruismus geweckt – der sie letztendlich überwältigt. Und auch den Ich-Erzähler fasziniert vor allem die Größe des im kranken Körper gefangenen Bewusstseins. Der hochgeistige Schwebezustand des philosophischen Intellekts, gekettet an den Realitäten der Krankheit. Die 'Schreibunfähigkeit' Mareks (seine diktierten Texte sind im Gegensatz zu seiner vitalen Mündlichkeit alle farb- und nuancenlos) erweist sich schließlich für Canetti als Annäherung an eine bestürzende Wahrheit, die die Unfähigkeit des Menschen, sie zu erlangen, gleichzeitig artikuliert: Sich zu ergeben in den Kosmos des Vergessens - und nicht dagegen anzuschreiben.
Der kulturpessimistische Splitter in dieser narrativen Diagnostik richtet sich dann vor allem gegen die Mutter und ihr Vermächtnis. Und gleichzeitig steckt darin der Keim zu ihrer Verteidigung. Als „Die Blendung“ erscheint, erklärt die Mutter, sie sei beeindruckt – und fügt hinzu, das Buch hätte von ihr stammen können. Der Sohn, so gibt sie zu verstehen, sei eigentlich nur das Medium ihrer Begabung. Als sie wenige Jahre später in Paris bettlegrig den Tod erwartet, schickt sie ihren Ältesten immer wieder weg. „Geh! Ich will dich nicht sehen.“ Ein grausames Spiel, das sich mehrmals wiederholt.
Trotz der tödlichen Krankheit, die sie ja milder stimmen müsste, rückt sie nicht ab von der Figur göttlicher Zensur. Sie ist also - das merkt der Leser unweigerlich - noch immer dieselbe Frau, die dem Achtjährigen (der aus Manchester kommend ‚nur’ Englisch sprechen konnte) in einem psychischen Gewaltakt die deutsche Sprache eintrichterte. Die Mutter zeugte über die Ebene jener Sprache, die in ihrem Verständnis für die Kulturvermittlung zuständig war, ihren Sohn ein zweites Mal – und schob sich selbst und ihre Willensstärke, auch weil der hybride Eros dieser autonomen Schöpfung ihr ein Gefühl von Größe verlieh, daraufhin in einen privatmythologischen Raum, aus dem sie den Sohn, sobald er die Mündigkeit erreichte, verstoßen musste. Dass der Sohn Dichter wurde, war ein pythagoreischer Verstoß. Aber in ihren Augen so wie im Blick des Sohnes hat die Übertretung eine Rückseite. Sie, die nicht schreibt, muss seine künstlerische Tätigkeit als stete Ahnung eines leeren Horizonts empfinden, der das Individuelle zu schlucken droht.
Es mag pure Illusion sein, dass das Geschriebene die Leere ausfüllt, so impliziert der Text. Die Illusion bleibt viel zu mächtig. Der Sohn ringt durch das Schreiben eines Buches – das 1934 in Österreich mit nicht unbedingt großer Aufmerksamkeit erscheint - dem gefühlstauben Himmel jene Geschichtlichkeit ab, auf der der Mensch sein Verständnis von Ewigkeit gründet. Das beleidigte Künstler-Ego der Mutter sieht darin ihr Vermächtnis. Daraus folgt, dass Canettis autobiographisches Schreiben sich über eine Anpassungsfähigkeit artikuliert, die den freiwilligen Schrumpfungsprozessen von Marek, Dr. Sonne und der Mutter die Ausdehnung einer Prosa entgegensetzt, die vor allem von einem bedrängenden Reichtum in Ausdruck, Stil und Emotion beseelt sein möchte – und es auch ist.
Man kann es schlichter, beziehungsweise phantastischer ausdrücken - und sollte sich daran erinnern, dass Canetti den Tod zu seinem Feind erklärt hatte: Das Universum, als Träger diese Todes, ist in seiner Perspektive nicht nur der Behälter, der über eine unendliche Kapazität verfügt, ausgehauchtes Dasein zu stauen. Das Universum ist auch (oder vielleicht vielmehr) eine virtuelle Bibliothek, die noch immer und für alle Zeiten unendlich freien Regalraum zur Verfügung stellt. Das ist zwar auch nur ein schwacher Trost gegen die Übermacht des Todes, aber immerhin ist es - und man sollte dabei die theologische Dimension nicht unterschlagen - Trost.

Elias Canetti: Das autobiographische Werk. 983 Seiten. Frankfurt am Main, Zweitausendundeins, 2000. 14,90 Euro.