Mittwoch, 18. März 2009

Michel Foucault: Schriften zur Literatur

Von Manuel Karasek

Ende der Achtziger erscheint das erste Mal auf Deutsch Michel Foucaults Essays über Literatur in einem Band, die dieser in den Sechziger Jahren geschrieben hat. In den Aufsätzen beschäftigt er sich erneut mit dem Phänomen des Verständnis’ von Wahnsinn unter Bezugnahme gesellschaftlicher Veränderungen und historischer Prozesse. Im Gegensatz zu seiner Arbeit „Wahnsinn und Gesellschaft“, die 1961 bei „Gallimard“ publiziert und mit der sein Verfasser bekannt wurde, rückt für Foucault in den folgenden Jahren eher die Perspektive prominenter Vertreter und ihr Übergang in die unendlichen Gefilde des Irrsinns in den Mittelpunkt.
Zwei berühmte Fälle erscheinen ihm da beispielhaft zu sein. Zum einen der Fall Rousseaus, dessen „Dialogues“, etwa nach den „Bekenntnissen“ 1770 geschrieben, überwiegend als das wirre Ergebnis eines von Verfolgungswahn gepeinigten Autors gedeutet wird – dagegen Foucault darin, ohne den pathologischen Anteil in Rousseaus Arbeit gänzlich zu leugnen, eher „die Struktur großer theoretischer Texte“ ausmacht: einen frühen und kühnen ontologisch-heideggerischen Entwurf zur Vorstellung und Begrifflichkeit von Existenz und Inexistenz. Und zum anderen den Fall Nietzsches, dessen Spätwerk – z. B. der 1888 geschriebene „Ecce Homo“ – Foucault nicht ausschließlich als Indiz der geistigen Zerrüttung des Philosophen gilt, sondern mehr als konsequente Umsetzung eines Denkens gelesen werden sollte, das seine eigene Grenze stets vorschiebt und dabei mit der Hypothese einer ‚Grenzüberschreitung’ in der Figur des ‚Undenkbaren’ spielt.
Was bei diesen Plädoyers für jene ‚Außenseiter’ schließlich ins Auge sticht, ist, dass Michel Foucault durch die gnostisch anmutende Auslegung der Texte den Umriss einer doktrinären Exegese entwirft. Aus seiner Sicht hat es immer einen philosophischen Mainstream gegeben, der dazu neigte, Rousseaus und Nietzsches letzte Arbeiten als deutliches Indiz für ihren Übertritt in ein Schattenreich zu interpretieren. Foucault begreift diese Deutungsmuster als diskriminierenden Beschreibungsversuch, als Negation von späten Theorieentwürfen. Natürlich steckt in seiner Methode ein unübersehbarer Anteil an Polemik, denn es wird ja nie auch nur ein Name eines der Vertreter des angeblich doktrinären Diskurses genannt.
Das endgültig geistige Aus jener Akteure – und die nachträgliche Belichtung, die beide Fälle als eine ins Frevlerische hineinreichende intellektuelle Unangepasstheit wertet und so zu dem Ergebnis gelangt, dass Rousseau und Nietzsche für ihre maßlos geistige ‚Entgrenztheit’ mit dem Irrsinn bezahlen mussten – diese bühnenwürdigen Abgänge sind für Foucault vielmehr interessant unter dem Aspekt der Annahme. Die Diagnose über jene ‚Endzustände’ wird dann als das Ergebnis einer eingeschränkten, ja oberflächlichen Sichtweise gewertet.
Interessant daran, ist schließlich aber gar nicht mal der herausdestillierte Herrschaftsbegriff in der kulturellen Produktion des 19. Jahrhunderts, den Michel Foucault in den 60ern analysierte. Interessant in dem Zusammenhang ist eher, dass etwa im selben Zeitraum die ersten Romane und Erzählungen Thomas Bernhards (Frost, Verstörung, Wittgensteins Neffe, Das Kalkwerk) im deutschen Sprachraum erscheinen – und diese erzählen Geschichten, die um den Wahnsinn kreisen, im Mittelpunkt stehen Figuren mit ausgeprägten Störungen. Anders gesagt: Ohne voneinander zu wissen, behandeln beide auf unterschiedliche Art den alten Widerspruch zwischen der individuellen Wunschproduktion als Hybris und den gesellschaftlichen Postulaten als Gewalt und Gesetz. Neu an der Darstellung der prinzipiellen Zweiteilung - hier die Anarchie des Individuums, dort das pluralistische Ordnungsprinzip – ist der Umstand, dass ihre kritischen, bewusst solitären Positionen der Werteordnung der Nachkriegszeit gegenübergestellt sind. Diese - so implizieren beide - trägt, wenn auch verwandelt, die Züge des 19. Jahrhunderts.
Der eine behandelt diese Verklammerung fiktiv, der andere theoretisch. Die Verklammerung ist dabei gleichzeitig die Verschränkung einer Frage und ihrer Antwort, die ein Unbehagen umreißt. Im Jargon der Sechziger Jahre würde die Frage nämlich lauten: Könnte es sein, dass die Rolle des Intellektuellen (oder des Künstlers) – sieht man einmal von denjenigen ab, die ihre Rolle in der Gesellschaft gefunden haben - als solches per se in die Nähe eines pathologischen Zustands gerückt wird? Andersrum gefragt: Könnte es sein, dass Desinteresse als Reaktion auf die künstlerisch-intellektuelle Arbeit einen Graben erzeugt, dessen gähnender Schlund die geistigen Energien nutzlos verschlingt – und mit ihnen die stets prekäre Verfassung der Vernunft?
Foucaults Essays über die Literatur haben jedenfalls mit Thomas Bernhards frühem Werk gemeinsam, dass beide abseits des Bekanntheitsgrades (sie waren zu dem Zeitpunkt noch nicht berühmt) den notorischen Verdacht mit sich schleppen, zwar in Augen anderer durchaus als das zu gelten, was man im eigenen Blick zu sein meint, dass dies aber mit einer Marginalisierung versehen ist. Dabei greifen jeweils der französische Denker sowie der österreichische Autor - unabhängig voneinander und auf unterschiedliche Weise – auf eine Annahme zurück. Sie erklären, dass die europäischen Gesellschaften ihre repressiven Methoden und Systeme des 19. Jahrhunderts nicht abgelegt, sondern lediglich transformiert hätten, wobei es ihnen nicht um eine Beweisführung denn mehr um eine Darlegung des Wahrscheinlichen geht.
Ihr Verdacht erklärt sich auch aus ihrer Biographie. Hinlänglich bekannt die Homosexualität Foucaults, seine offensichtliche Neigung zu Sadismus, aber ebenfalls der weniger der Yellow Press zugehörige Teil: seine inzwischen berühmten Entwürfe von Diskursen, die sich keiner Schule (etwa den Strukturalisten) unterordnen wollten. Ein Gespür dafür, dass er als Figur im Blick der Mehrheit sich in einer zwielichtigen Randzone aufhielt, hatte er sicherlich. Ebenso wie Thomas Bernhard, wenn auch unter anderen Prämissen, der unter einer schweren Lungenerkrankung litt, die seiner Karriere als Opernsänger ein abruptes Ende bereitete. Beide waren in etwa gleich alt (Foucault 1926, Bernhard 1931 geboren), gehörten zu jener Generation, die den Zweiten Weltkrieg als Jugendliche erlebten – und dessen erste Aufarbeitung mit der Demaskierung des Stalinismus und den Frankfurter Auschwitzprozessen mit ihrem geistigen Reifungsprozess zusammenfiel. Beide erlebten den zweiten großen industriellen Aufschwung in Europa, in seinen Dimensionen weit umfänglicher als derjenige vor den zwei autodestruktiven Weltkriegen. Und beide zogen aus diesem Umstand einen ähnlichen Schluss.
In den Romanen „Frost“ und „Verstörung“ beispielsweise zeichnet Bernhard eine österreichische Welt der Provinz, die trotz der Kriege und der nachfolgenden Umwandlungsprozesse das alte nationale Gesicht in ihren Institutionen und in der Mentalität trägt, nur ohne Kaiser und Reich. Das Land ist geschrumpft zu einer obskuren Zone am Rande von Europas Westen, und mit ihr sind die Einwohner zusammengefallen in ihre kleinstmögliche Einheit. Angestellte und Bauern, zufrieden mit ihrem jetzt gottlob kleinen Los, bilden das soziale Ensemble. Nachdem der Spuk des politischen Größenwahns an ihnen vorbeigezogen ist, befindet sich Österreich nun auch nicht mehr unter Beobachtung – und dreht sich in der Perspektive Bernhards in die Richtung einer gewünschten Vergangenheit, in der es ewig verharren möchte.
Michel Foucault behandelt in den Essays über die Literatur gerade französische Autoren wie Maurice Blanchot, George Bataille, Klossowski (der unter anderem Hölderlin ins Französische übertrug), die einige Gemeinsamkeiten aufzuweisen haben. Sie alle thematisierten auf unterschiedliche Art den Wahnsinn als allerletzte Ausdrucksmöglichkeit – in der neben dem finalen Charakter, die der Irrsinn enthält, sich auch der Beginn einer neuen Grenze auftut, ein Denken, das neu fixiert und normiert – und wieder sich selbst verwirft, erneuert usw. usf. Sie alle waren mehr oder weniger ‚Entdecker’ oder ‚Wiederentdecker’ von Nietzsches Werk im französischen Sprachraum. Sie alle waren Außenseiter und im weitesten Sinne Theoretiker – und sie alle deuteten in ihren Texten den Schatten, den das 19. Jahrhundert überproduktiv in das 20. warf.
Auch in anderer Hinsicht war jener Schatten lang, länger als selbst Foucault vielleicht gedacht hatte, der 1984 an Aids verstarb. In dem letzten Essay des Bandes verweist Foucault auf eine Arbeitsmethode Gustave Flauberts. Seine These lautet, dass das Kompositionsverfahren Flauberts sich nicht ausschließlich aus seinem Innenleben gespeist, sondern mehr aus dem Geiste der Kompilationen ihre Ergebnisse gezogen habe. Beispielsweise enthalte „Die Versuchung des heiligen Antonius“ Wort für Wort, Zeile für Zeile Auszüge aus historischen Quellen oder Traktaten seiner Zeit, was nicht heißt, Flaubert hätte einfach alles abgeschrieben. Das war nicht der Fall gewesen. Aber Flaubert arbeitete an jeder Szene akribisch, präziser formuliert: Für fast jedes Detail recherchierte er ausgiebig in Bibliotheken. Seine Besessenheit diesbezüglich begriff er auch als Entsprechung einer Inbesitznahme von Inhalten aus dem Medium Buch. Seine eigenen Bücher seien, so schließt Foucault, auch eine Reaktion auf die überwältigende Stofffülle, die das Medium Buch enthält. Zugespitzt formuliert: Flaubert war der ‚Entdecker’ einer wegweisenden Kompilations-Methode.
Als im letzten Jahr Jonathan Littells Roman „Die Wohlgesinnten“ auf Deutsch erschien, verwies der Autor bezüglich seiner Arbeit gerade auf Gustave Flaubert. Das klang einigermaßen affektiert. Wenn man aber seinen Holocaust-Roman gelesen hat, weiß man, dass dieser aus dem Geist der Kompilation heraus geschrieben wurde – und gelungen ist.

Michel Foucault: Schriften zur Literatur. Aus dem Französischem von Karin von Hofer und Anneliese Botond. 177 Seiten. Frankfurt am Main, S. Fischer 1988.
Eine viel umfänglichere Sammlung in einer späteren Übersetzung ist unter demselben Titel bei Suhrkamp erschienen. 450 Seiten. 14, 50 Euro. Das hier besprochene Taschenbuch der Reihe „Fischer-Wissenschaft“ ist nur antiquarisch erhältlich.

Donnerstag, 5. März 2009

Christian Lehnert: Auf Moränen

Von Manuel Karasek

Bei Christian Lehnert viertem Gedichtband „Auf Moränen“ ist Paulus eine schwergeprüfte Gestalt, der an seiner Unfähigkeit, die Vollkommenheit des Glaubens in sich zu finden, leidet. Und er meint, die von höchster Stelle ihm anvertraute Mission, nicht erfüllen zu können. Einmal heißt es: „Was ich auch tue, es führt in den Tod./ Was ich auch lasse, es ist mein Versagen./ Wenn ich erwache/ falle ich zu einem Punkt zusammen.“ Das Verfahren, mit dem Lehnert Paulus konstruiert, ist hier interessant.
Paulus Briefe sind ja – wie weithin bekannt - Zeugnisse glühenden Glaubens. Jedoch sind die Bruchstellen innerhalb der Glaubensdarlegung mit ihrem immer wieder zum Ausdruck hervorbrechenden Ängsten vor dem Tod und den Unterlegenheitsgefühlen gegenüber leiblichen Bedürfnissen immer schon Futter für die Hermeneutiker gewesen. Für Lehnert sind diese Bruchstellen dialektischer Ausgangspunkt seiner 24 Vigilien (Stundengebete), die Paulus Mission thematisiert. Das ist einerseits schlüssig und schön, weil er sich einer historischen Note bedient - was durchaus typisch für eine DDR-Lyriksozialisation ist (Lehnert wurde 1969 in Dresden geboren), die von Heiner Müller bis Durs Grünbein reicht. Andererseits wirken die Vigilien aber auch wie ein Sandalenfilm in Versen.
Trotzdem ist die sprachliche Verve, mit der Lehnert die Lücken im Glaubenssystem Paulus’ ausleuchtet, nicht unbeeindruckend: „Paulus hörst du?/ Ich spreche deinen Namen nach/ bis er mir nichts mehr sagt.“ Das hat dann Methode, denn später sagt er: „Ich bin, doch nicht in mir.“ Oder er konstatiert: „Nicht ich lebe, der Kommende lebt in mir.“
Lehnerts Gedichte haben also einen theologischen Einschlag, der allerdings im Dienste einer Spekulation steht. Der Dichter dreht an Paulus’ apodiktischem System von Glauben und Wahrheit kritisch herum. Eine ähnliche biographisch grundierte Methode wendet er in dem zweiten Abschnitt des knapp 130 Seiten langen Bandes an. Da stehen die verschiedenen Identitäten im Werdegang Erich Mielkes im Mittelpunkt, die ebenso fragmentarisch behandelt und dialektisch aufgelöst werden. „Das ist die Liebe“, heißt es einmal, „sich selbst/ zu vergessen. Enteignung und Entblößung. Wer ist wer?/ Fritz Leistner, Paul Bach? Erich Mielke?/ Dass ich das nicht bestimmen kann/ ist meine ganze Würde.“
Als Fritz Leistner kämpfte Mielke im spanischen Bürgerkrieg, der später mit anderen zusammen aus der Idee eines aufgeklärten sozialistischen Staates ein Gefängnis für 17 Millionen Menschen machte. Das heißt für Lehnert im Rückblick: Wann entsteht der Augenblick, wo aus einem System mit überzeugender Kohärenz eine geschlossene Anstalt wird?
Der ist manchmal etwas sperrig zu lesen, aber intellektuell interessant. Der ganze Post-DDR-Ernst kommt allerdings in dem Abschnitt, in dem sich Lehnert mit seiner Zeit als junger NVA-Bausoldat auseinandersetzt, besser zur Geltung. Diese Beschreibungen der schweren, körperlichen Arbeit mit ihren Knochen- und Muskelpathos überzeugen. Auch (oder gerade) weil Lehnert beeindruckende Bilder findet. In einem Gedicht beispielsweise werden verkrüppelte Krähen beschrieben – ein selbst sprechendes Bild für die flugunfähige DDR-Individualität.
Die schönste Lyrik des Bandes sind dann die aus feinfühligen Beobachtungen bestehenden Gedichte über die ersten Monate seiner Tochter. Und auch hier findet er schöne Bilder. Er begegnet der Befindlichkeit des Säuglings mit einer ozeanischen Metaphorik. Da tummeln sich die Delphine und Quallen; und das kindliche Prä-Bewusstsein schwimmt blind und vertraut in derselben Strömung. „Sie weiß von keinem Feuer,/ keinen Rauchgaben, keiner Sintflut.“ Vielleicht mögen das einige überladen finden, man kann sich dem nicht anschließen.
Denn selbst nach mehrmaligen Lesen verlieren Lehnerts Gedichte nichts von ihrem warmen Ton, verbunden mit der weit ausgreifenden Bildkraft. Das ist sicherlich auch ein Ergebnis der von ihm ausgesuchten Themenschwerpunkte. Vielleicht wird man bei diesen Gedichten so empfänglich, weil in ihnen immer wieder ein Kerngedanke klassischer Theologie aufleuchtet: Nämlich die Frage, warum es im metaphysisch erfahrbaren System der Natur eine so universell unpersönliche Kraft gibt, die ausgerechnet den Menschen liebt. Und man wird das Gefühl nie los, dass Christian Lehnert einen alten emotionalen Umriss noch einmal neu fasst.

Christian Lehnert: Auf Moränen. Gedichte. 134 Seiten. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2008. 16,80 Euro

Montag, 2. März 2009

Jose Manuel Prieto: Die kubanische Revolution und wie erkläre ich sie meinem Taxifahrer

Von Manuel Karasek

In den 90ern, nach dem der Kommunismus in Osteuropa spektakulär kollabiert war, öffnete Kuba seine Tore für den internationalen Tourismus. Fasziniert vom insularen Sozialismus kehrten viele (oder sagen wir abmildernd: einige) regelrecht hypnotisiert in ihre kapitalkräftigen Heimatländer in Europa zurück – und berichteten anschließend gar wundersames. Ausschließlich gastfreundschaftliche Inselbewohner waren ihnen begegnet, die nicht behelligt wurden von lästiger Werbung und giftigen Eigentumsverhältnissen. Strukturell siedelten sich solche Erzählungen in die Nähe utopischer Narration, in der messianische Elemente unbemerkt ins Satirische rutschten: Im Blick mancher verklärte sich Kuba zu einer Insel voller Nazarener.
Enerviert war der im Exil lebende, kubanische Autor Jose Manuel Prieto jedoch nicht von Karibikurlaubern, als er das Buch über seine Heimat schrieb. Gereizt hatte ihn eher ein alltägliches und offenbar global verbreitetes Phänomen: Gleichgültig in welchem Taxi er Platz nahm, egal an welchem Ort (Paris, Madrid, New York) – kam die Rede auf seine Nationalität, begannen die Chauffeure von Fidel Castro zu schwärmen. Der Rauschebart tragende Regierungschef galt ihnen als Personifizierung eines karibischen David, der den US-Goliath mehrmals eins ausgewischt hatte. Dieser Anekdote entsprechend klingt der Titel von Prietos jüngstem Werk auch entweder wie der Anfang oder die Pointe eines langen Witzes („Die kubanische Revolution und wie erkläre ich sie meinem Taxifahrer“), hat aber einen bitterernsten Hintergrund.
Prieto weiß nämlich, dass das Image Kubas vor allem über das negative Erscheinungsbild der Hegemonialmacht USA geprägt wird – und dass Fidel Castro seit 50 Jahren zum Schaden des eigenen Landes davon profitiert. Da setzt auch seine Kritik an, die sich nur am Rande mit der Geschichte der Revolution von 1958/59 auseinandersetzt, dafür aber mehr ihre Auswirkungen auf die Bevölkerung beschreibt, die mit den Folgen des politischen Umbruchs leben musste. Das dabei der oberflächliche Blick mancher Touristen implizit ins Spiel kommt, liegt an Prietos Kenntnissen, die eng mit seiner Autobiographie verknüpft sind: 1962 als Sohn eines Arztes geboren, Absolvent einer technischen Eliteschule, Ingenieursstudium in der UDSSR, daraufhin freiwilliges Exil und erste literarische Publikationen. Er gehört zu jener Generation, die Ende der 80er Jahre Reformen am sozialistischen Kurs forderten – eine Bewegung, die Fidel Castro schon im Keim erstickte.
Die Konsequenz davon war der zweitgrößte Exodus seit 1980. Ingesamt haben seit der Revolution, so berichtet Prieto, zehn Prozent der Kubaner ihre Insel verlassen, viele ertranken in den 90ern beim verzweifelten Versuch, mit selbst gebastelten Flössen das Meer zu überqueren. Der inzwischen schwer erkrankte Castro, der von allen seinen Ämtern zurückgetreten ist, verstand es immer, das nordamerikanische Handelsembargo zu seinen Gunsten zu nutzen. Mal diente es ihm als Schuldzuweisung für die instabilen ökonomischen Verhältnisse auf Kuba, dann wieder kam es ihm als Beleg für die imperialistisch-kolonialistischen Bestrebungen der USA entgegen; und selbst aus kurzfristigen Abkommen wie dem von Carter und Castro von 1980, in der eine Quote für Flüchtlinge festgelegt wurde (Ronald Reagan hob die Regelung zwei Jahre später wieder auf), schlug er Kapital. Prieto schreibt hierzu, dass Castro für seine Regimegegner keine Gulags gebraucht habe, Miami hätte gereicht.
Der Autor hält sich aber nicht, wie man jetzt erwarten könnte, am rechten politischen Rand auf – wie zahlreiche Exilkubaner, die seit Jahren eine gewaltsame Zerschlagung der kommunistischen Herrschaft unter Mithilfe der USA postulieren. Das Bezwingende seines Textes findet man eben darin, dass sein Verfasser nicht jenen Ressentiments unterworfen ist, die Merkmale der verhärteten, polarisierten Positionen sind. So hält er beispielsweise die Revolution als solche für einen Irrweg, ist aber gegen einen gewaltsamen Umbruch, in dem er lediglich die blinde Tendenz erblickt, 50 Jahre kubanischer Geschichte wegzuwischen – und spricht sich für eine schrittweise Lösung aus, ähnlichem dem chinesischen Weg. Trotz dieser Akzente ist sein Buch keine politische Streitschrift, sondern eher ein spielerischer (und gleichzeitig ernster) Exkurs in die schizophrene Affinität des Lateinamerikaners zum großen Bruder im Norden. Wie sehr in mancher Beziehung Kuba doch den USA gleicht, wie stark vom Hochmut die Nordamerikaner geblendet sind – das hat übrigens auch pädagogisches Potential für die Zukunft.

Jose Manuel Prieto: Die kubanische Revolution und wie erkläre ich sie meinem Taxifahrer. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. edition suhrkamp, 2008. 220 Seiten. 10 Euro

Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten

Von Manuel Karasek

Die denkbar schlechtesten Kritiken hierzulande hatte vor gut einem Jahr Jonathan Littells Roman über den Holocaust „Die Wohlgesinnten“ bekommen. Iris Radisch in der „Zeit“ bezeichnete den Autor als „Idioten“, Georg Klein in der „SZ“ erklärte, Littell verfüge über keine „Sprache des Bösen“. Selbst wohlwollende Kritiker wie beispielsweise Klaus Harprecht meinten, Littell habe sein umfangreiches Material zwar eindrucksvoll in den Griff bekommen - was ein gutes Essay ergeben hätte, sei aber bei der Arbeit in eine „Falle“ getappt, die in der ‚Natur’ des finsteren Sujets liege. Die Massenvernichtung aus der Perspektive eines Täters lasse, so Harprecht, als Romanthema keine Überhöhung zu, die sprachliche und formale Ausarbeitung führe automatisch zu Schmock und Kitsch – also „Die Wohlgesinnten“ seien schon von ihrem Ansatz her ein gescheitertes Projekt.
Damit wäre eigentlich alles klar gewesen. Die ‚Lebensbeichte’ des ehemaligen SS-Mannes Max Aue, die trotz des Umfanges von knapp 1400 Seiten in Frankreich fast eine Million Mal verkauft wurde, war ein kalkuliertes Machwerk, das darauf hatte bauen können, vom breiten Rücken der postmodernen Holocaust-Religion getragen zu werden. Doch nur wenige Tage nach den harschen Verrissen meldete sich der Soziologe und Psychologe Klaus Theweleit zu Wort, der mit seiner fundierten Studie „Männerphantasien“ als Koryphäe der Faschismusforschung gilt – und in der öffentlichen Wahrnehmung auch kein Unbekannter ist. Nicht Littells Roman sei gescheitert, so Theweleit, sondern die deutsche Literaturkritik. Hauptsächlich habe sie nämlich übersehen, dass die literarische Darstellung der Shoa aus dem Blickwinkel eines Mörders zu keiner Kunstsprache a’ la Thomas Mann führen könne. Die Rezensenten, allen voran Iris Radisch, hätten aufgrund ihrer falschen Erwartungen einen wichtigen Aspekt von Littells Konzept nicht verstanden. Auch er, Theweleit, habe erst nach 700 Seiten begriffen, dass dieser Kitsch und Schmutz unverzichtbarer integraler Bestandteil von Max Aues Psyche wäre - und sich dementsprechend auf seinen 'Stil' auswirke. Und liest man beispielsweise die Ausschnitte der faschistischen Freikorpsliteratur der 20er Jahre, die Klaus Theweleit immer wieder und sehr zahlreich als Beispiele in „Männerphantasien“ (1977 erschienenen) eingefügt und kommentiert hat, kann man nicht übersehen, dass es regelrecht auffällige Strukturähnlichkeiten zwischen der Figur Aue und den historischen Zeugnissen gibt.
Frappant ist es schon, dass Max Aue eine inzestuöse Beziehung zu seiner Zwillingsschwester Una führt – und dass bei fast allen Autoren der Freikorpsliteratur (zu deren Autorenkreis übrigens auch Ernst Jünger gehörte) eine starke Neigung zum Inzest unübersehbar war. Frappant auch, dass sich hinter dem Postkartenkitsch des Ich-Erzählers Max Aue eine irritierende Gefühlsöde verbirgt, die eindeutig mit den sentimentalen Berichten und Erinnerungen vieler ehemaligen Soldaten des Ersten Weltkrieges (aus dem die Freikorps hervorgingen) korrespondiert – und die eine Gemeinsamkeit aufzeigt: Ihren Hang zur fast uneingeschränkten Destruktivität. Daraus leiten sich schließlich zwei Fragen ab. Warum hat die deutsche Literaturkritik diese auffällige Parallele nicht aufgreifen können? Oder war etwa nur Klaus Theweleit, durch seine Forschungsarbeit am Faschismus besonders sensibilisiert, in der Lage, Littells Buch zu begreifen?
Dazu muss man wissen, wie professionelle Literaturkritik unter marktabhängigen Kriterien funktioniert – oder besser: zu funktionieren hat. Beispielsweise war auffällig, dass Iris Radisch Jonathan Littells sprachliche Handhabung die Nähe zum „Thriller“ attestierte, was im Kontext eine eindeutig negative Wertung bedeutete. Andere Rezensenten hatten einen ähnlichen Katalog von Vorwürfen herausgearbeitet. Daran lässt sich der Charakter literarischer Ableitungen ablesen, die dann „Die Wohlgesinnten“ im Zusammenhang mit der industriellen Publikation von Bestsellern stellt. Was in Theweleits Blick zum Hinweis und zur Verarbeitung fast eines Gegenentwurfs zu einer konservativen Ästhetik geriet, war für die Literaturkritik (das gilt natürlich nicht für alle) der Versuch billiger Provokation und Effekthascherei. Die daraus sich ergebende Hypothese hätte schließlich gar nicht lauten müssen, dass die Literaturkritik gescheitert war, sondern dass sie sich gelegentlich überfordert fühlt – nicht von Littell selbst, sondern eher von dem Massenkulturprodukt Buch.
Literaturkritische Interpretationen der Belletristik neigen dazu, zirkulär zu sein. Das heißt, sie beziehen sich stets auf bestimmte Teile des Kanons und auf bestimmte stark ausgeleuchtete Momente im Radius der Veröffentlichungen der letzten Jahre. Was bei einer Kritik an professionellen Rezensenten oft vergessen wird, ist, dass Literaturkritik, sobald sie sich im Focus verstärkter Wahrnehmung befindet, dazu tendiert, konservativ zu sein. Und es ist gar nicht mal so sehr Werteerhaltung, die daraus spricht, als vielmehr die Neigung, wohl vertrautes Gelände – auch weil es so groß ist – nicht zu verlassen.
Littells Roman produzierte in der zeitgenössischen Wahrnehmung somit zwei Lesarten. In der einen hatten „Die Wohlgesinnten“, trotz der zahlreichen Einfügungen des SS-Beamtenjargons, eine unübersehbare Nähe zu einer globalisierten Bestsellerkultur, die ein historisches Ereignis von einer solchen Tragweite bestenfalls in seiner Darstellung 'fotokopieren' konnte - und damit einen speziellen Vouyerismus des weltweit an dem Thema interessierten Buchkunden bedient. In der anderen blitzten der Schrecken aus dem Schatten Max Aues hervor – und seine Biographie wurde nicht als Schule individuellen Werdens begriffen, sondern als destruktiver Ausdruck einer generellen Pädagogik ihrer Zeit, die die Eliminierung großer Bevölkerungsteile mit unvorstellbarer Unempfindlichkeit legalisierte.
Dass man bei der Interpretation oftmals darauf beharrte, Littells Hauptfigur sei im Kern inkonsistent und partikular, hängt damit zusammen, dass im literarischen Bewusstsein selbst finsterste und skrupelloseste Gestalten wie beispielsweise Richard III. oder der revolutionäre Terrorist Pjotr Werchowenski aus Dostojewskis „Die Dämonen“ ihr zerstörerisches Werk in einem Umfeld tätigten, die ihre kriminelle Energie wahrnahm. Und zieht man selbst einen Roman aus jüngerer Zeit, Bret Easton Ellis 1999 erschienenen Roman „Glamorama“, zu Rate, der sich mit der Dynamik des Bösen auseinandersetzt, so fällt im Vergleich zu „Die Wohlgesinnten“ eines besonders auf. Victor Ward – der Ich-Erzähler in Ellis Roman – taumelt zwar von Drogen benommen in eine groteske und gefährliche Terrororganisation (die sich als Modeunternehmen tarnt), er ist aber nie so stoned, dass sich sein Mitgefühl verflüchtigt.
Es gibt zwei Szenen in „Die Wohlgesinnten“, die Max Aues Unempfindlichkeit – seine Unfähigkeit zum Eingeständnis des Bösen aus dem Geiste längst verinnerlichter Verrohung - stärker ausleuchten, als die von Teilen der Kritik als Pornographie gebrandmarkten Erschießungsszenen. Auch weil sie eher argumentativ operieren und somit subtiler in ihrer Wirkung sind. In der einen erklärt Aues guter Freund Voss (ein Ethnologe), dass die Rassenlehre wissenschaftlich unhaltbar sei und außerhalb Deutschlands von keiner seriösen Akademie ernst genommen werde; man könne also irgendeinen auf der Straße einfach aufgreifen, ihn zum Juden erklären und daraufhin exekutieren, es mache keinen Unterschied. In der anderen Episode trifft Aue auf den Arzt Dr. Wirth, der die Folgen der Massenvernichtung beim Wachpersonal untersucht. Dieser berichtet unter anderem, dass ein Großteil des Sadismus’ des Wärters gegenüber seinen Häftling auf die uneingestandene Erkenntnis des Täters beruhe, dass sein Opfer kein Untermensch sei, sondern auf skandalöse Weise gleichrangig – was letztendlich das Paradoxon ungehemmter Brutalisierung hervorbringe.
Aue hört beiden zu – und nimmt an der Vernichtung weiter teil. Zusammenfassend lässt sich dann sagen: Damit aus Max Aue eine wirklich böse Figur im klassischen Sinne würde, bräuchte er etwas so Universelles wie ein Gewissen, ergo ein Mitgefühl für die anderen – und eine Gesellschaft, die dies nicht grundsätzlich ablehnt. Vielleicht beruht die Verständnisschwierigkeit der „Wohlgesinnten“ gerade darauf. Allerdings ging es schließlich um mehr als um Literatur. Die Rezensionen in Deutschland legten vor allem eine Behauptung frei, die in der scheinbaren Feststellung mündete, dass man die Komplexität totalitärer Staaten wie dem des nationalsozialistischen Deutschlands nicht mehr erklärt zu bekommen bräuchte. Bei genauerem Hinsehen erwies sich das gerade als ein verinnerlichter Reflex der Abwehr.

Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten. Roman. Aus dem Französischen von Hainer Kober. 1381 Seiten. Berlin Verlag. 36 Euro.