Mittwoch, 18. März 2009

Michel Foucault: Schriften zur Literatur

Von Manuel Karasek

Ende der Achtziger erscheint das erste Mal auf Deutsch Michel Foucaults Essays über Literatur in einem Band, die dieser in den Sechziger Jahren geschrieben hat. In den Aufsätzen beschäftigt er sich erneut mit dem Phänomen des Verständnis’ von Wahnsinn unter Bezugnahme gesellschaftlicher Veränderungen und historischer Prozesse. Im Gegensatz zu seiner Arbeit „Wahnsinn und Gesellschaft“, die 1961 bei „Gallimard“ publiziert und mit der sein Verfasser bekannt wurde, rückt für Foucault in den folgenden Jahren eher die Perspektive prominenter Vertreter und ihr Übergang in die unendlichen Gefilde des Irrsinns in den Mittelpunkt.
Zwei berühmte Fälle erscheinen ihm da beispielhaft zu sein. Zum einen der Fall Rousseaus, dessen „Dialogues“, etwa nach den „Bekenntnissen“ 1770 geschrieben, überwiegend als das wirre Ergebnis eines von Verfolgungswahn gepeinigten Autors gedeutet wird – dagegen Foucault darin, ohne den pathologischen Anteil in Rousseaus Arbeit gänzlich zu leugnen, eher „die Struktur großer theoretischer Texte“ ausmacht: einen frühen und kühnen ontologisch-heideggerischen Entwurf zur Vorstellung und Begrifflichkeit von Existenz und Inexistenz. Und zum anderen den Fall Nietzsches, dessen Spätwerk – z. B. der 1888 geschriebene „Ecce Homo“ – Foucault nicht ausschließlich als Indiz der geistigen Zerrüttung des Philosophen gilt, sondern mehr als konsequente Umsetzung eines Denkens gelesen werden sollte, das seine eigene Grenze stets vorschiebt und dabei mit der Hypothese einer ‚Grenzüberschreitung’ in der Figur des ‚Undenkbaren’ spielt.
Was bei diesen Plädoyers für jene ‚Außenseiter’ schließlich ins Auge sticht, ist, dass Michel Foucault durch die gnostisch anmutende Auslegung der Texte den Umriss einer doktrinären Exegese entwirft. Aus seiner Sicht hat es immer einen philosophischen Mainstream gegeben, der dazu neigte, Rousseaus und Nietzsches letzte Arbeiten als deutliches Indiz für ihren Übertritt in ein Schattenreich zu interpretieren. Foucault begreift diese Deutungsmuster als diskriminierenden Beschreibungsversuch, als Negation von späten Theorieentwürfen. Natürlich steckt in seiner Methode ein unübersehbarer Anteil an Polemik, denn es wird ja nie auch nur ein Name eines der Vertreter des angeblich doktrinären Diskurses genannt.
Das endgültig geistige Aus jener Akteure – und die nachträgliche Belichtung, die beide Fälle als eine ins Frevlerische hineinreichende intellektuelle Unangepasstheit wertet und so zu dem Ergebnis gelangt, dass Rousseau und Nietzsche für ihre maßlos geistige ‚Entgrenztheit’ mit dem Irrsinn bezahlen mussten – diese bühnenwürdigen Abgänge sind für Foucault vielmehr interessant unter dem Aspekt der Annahme. Die Diagnose über jene ‚Endzustände’ wird dann als das Ergebnis einer eingeschränkten, ja oberflächlichen Sichtweise gewertet.
Interessant daran, ist schließlich aber gar nicht mal der herausdestillierte Herrschaftsbegriff in der kulturellen Produktion des 19. Jahrhunderts, den Michel Foucault in den 60ern analysierte. Interessant in dem Zusammenhang ist eher, dass etwa im selben Zeitraum die ersten Romane und Erzählungen Thomas Bernhards (Frost, Verstörung, Wittgensteins Neffe, Das Kalkwerk) im deutschen Sprachraum erscheinen – und diese erzählen Geschichten, die um den Wahnsinn kreisen, im Mittelpunkt stehen Figuren mit ausgeprägten Störungen. Anders gesagt: Ohne voneinander zu wissen, behandeln beide auf unterschiedliche Art den alten Widerspruch zwischen der individuellen Wunschproduktion als Hybris und den gesellschaftlichen Postulaten als Gewalt und Gesetz. Neu an der Darstellung der prinzipiellen Zweiteilung - hier die Anarchie des Individuums, dort das pluralistische Ordnungsprinzip – ist der Umstand, dass ihre kritischen, bewusst solitären Positionen der Werteordnung der Nachkriegszeit gegenübergestellt sind. Diese - so implizieren beide - trägt, wenn auch verwandelt, die Züge des 19. Jahrhunderts.
Der eine behandelt diese Verklammerung fiktiv, der andere theoretisch. Die Verklammerung ist dabei gleichzeitig die Verschränkung einer Frage und ihrer Antwort, die ein Unbehagen umreißt. Im Jargon der Sechziger Jahre würde die Frage nämlich lauten: Könnte es sein, dass die Rolle des Intellektuellen (oder des Künstlers) – sieht man einmal von denjenigen ab, die ihre Rolle in der Gesellschaft gefunden haben - als solches per se in die Nähe eines pathologischen Zustands gerückt wird? Andersrum gefragt: Könnte es sein, dass Desinteresse als Reaktion auf die künstlerisch-intellektuelle Arbeit einen Graben erzeugt, dessen gähnender Schlund die geistigen Energien nutzlos verschlingt – und mit ihnen die stets prekäre Verfassung der Vernunft?
Foucaults Essays über die Literatur haben jedenfalls mit Thomas Bernhards frühem Werk gemeinsam, dass beide abseits des Bekanntheitsgrades (sie waren zu dem Zeitpunkt noch nicht berühmt) den notorischen Verdacht mit sich schleppen, zwar in Augen anderer durchaus als das zu gelten, was man im eigenen Blick zu sein meint, dass dies aber mit einer Marginalisierung versehen ist. Dabei greifen jeweils der französische Denker sowie der österreichische Autor - unabhängig voneinander und auf unterschiedliche Weise – auf eine Annahme zurück. Sie erklären, dass die europäischen Gesellschaften ihre repressiven Methoden und Systeme des 19. Jahrhunderts nicht abgelegt, sondern lediglich transformiert hätten, wobei es ihnen nicht um eine Beweisführung denn mehr um eine Darlegung des Wahrscheinlichen geht.
Ihr Verdacht erklärt sich auch aus ihrer Biographie. Hinlänglich bekannt die Homosexualität Foucaults, seine offensichtliche Neigung zu Sadismus, aber ebenfalls der weniger der Yellow Press zugehörige Teil: seine inzwischen berühmten Entwürfe von Diskursen, die sich keiner Schule (etwa den Strukturalisten) unterordnen wollten. Ein Gespür dafür, dass er als Figur im Blick der Mehrheit sich in einer zwielichtigen Randzone aufhielt, hatte er sicherlich. Ebenso wie Thomas Bernhard, wenn auch unter anderen Prämissen, der unter einer schweren Lungenerkrankung litt, die seiner Karriere als Opernsänger ein abruptes Ende bereitete. Beide waren in etwa gleich alt (Foucault 1926, Bernhard 1931 geboren), gehörten zu jener Generation, die den Zweiten Weltkrieg als Jugendliche erlebten – und dessen erste Aufarbeitung mit der Demaskierung des Stalinismus und den Frankfurter Auschwitzprozessen mit ihrem geistigen Reifungsprozess zusammenfiel. Beide erlebten den zweiten großen industriellen Aufschwung in Europa, in seinen Dimensionen weit umfänglicher als derjenige vor den zwei autodestruktiven Weltkriegen. Und beide zogen aus diesem Umstand einen ähnlichen Schluss.
In den Romanen „Frost“ und „Verstörung“ beispielsweise zeichnet Bernhard eine österreichische Welt der Provinz, die trotz der Kriege und der nachfolgenden Umwandlungsprozesse das alte nationale Gesicht in ihren Institutionen und in der Mentalität trägt, nur ohne Kaiser und Reich. Das Land ist geschrumpft zu einer obskuren Zone am Rande von Europas Westen, und mit ihr sind die Einwohner zusammengefallen in ihre kleinstmögliche Einheit. Angestellte und Bauern, zufrieden mit ihrem jetzt gottlob kleinen Los, bilden das soziale Ensemble. Nachdem der Spuk des politischen Größenwahns an ihnen vorbeigezogen ist, befindet sich Österreich nun auch nicht mehr unter Beobachtung – und dreht sich in der Perspektive Bernhards in die Richtung einer gewünschten Vergangenheit, in der es ewig verharren möchte.
Michel Foucault behandelt in den Essays über die Literatur gerade französische Autoren wie Maurice Blanchot, George Bataille, Klossowski (der unter anderem Hölderlin ins Französische übertrug), die einige Gemeinsamkeiten aufzuweisen haben. Sie alle thematisierten auf unterschiedliche Art den Wahnsinn als allerletzte Ausdrucksmöglichkeit – in der neben dem finalen Charakter, die der Irrsinn enthält, sich auch der Beginn einer neuen Grenze auftut, ein Denken, das neu fixiert und normiert – und wieder sich selbst verwirft, erneuert usw. usf. Sie alle waren mehr oder weniger ‚Entdecker’ oder ‚Wiederentdecker’ von Nietzsches Werk im französischen Sprachraum. Sie alle waren Außenseiter und im weitesten Sinne Theoretiker – und sie alle deuteten in ihren Texten den Schatten, den das 19. Jahrhundert überproduktiv in das 20. warf.
Auch in anderer Hinsicht war jener Schatten lang, länger als selbst Foucault vielleicht gedacht hatte, der 1984 an Aids verstarb. In dem letzten Essay des Bandes verweist Foucault auf eine Arbeitsmethode Gustave Flauberts. Seine These lautet, dass das Kompositionsverfahren Flauberts sich nicht ausschließlich aus seinem Innenleben gespeist, sondern mehr aus dem Geiste der Kompilationen ihre Ergebnisse gezogen habe. Beispielsweise enthalte „Die Versuchung des heiligen Antonius“ Wort für Wort, Zeile für Zeile Auszüge aus historischen Quellen oder Traktaten seiner Zeit, was nicht heißt, Flaubert hätte einfach alles abgeschrieben. Das war nicht der Fall gewesen. Aber Flaubert arbeitete an jeder Szene akribisch, präziser formuliert: Für fast jedes Detail recherchierte er ausgiebig in Bibliotheken. Seine Besessenheit diesbezüglich begriff er auch als Entsprechung einer Inbesitznahme von Inhalten aus dem Medium Buch. Seine eigenen Bücher seien, so schließt Foucault, auch eine Reaktion auf die überwältigende Stofffülle, die das Medium Buch enthält. Zugespitzt formuliert: Flaubert war der ‚Entdecker’ einer wegweisenden Kompilations-Methode.
Als im letzten Jahr Jonathan Littells Roman „Die Wohlgesinnten“ auf Deutsch erschien, verwies der Autor bezüglich seiner Arbeit gerade auf Gustave Flaubert. Das klang einigermaßen affektiert. Wenn man aber seinen Holocaust-Roman gelesen hat, weiß man, dass dieser aus dem Geist der Kompilation heraus geschrieben wurde – und gelungen ist.

Michel Foucault: Schriften zur Literatur. Aus dem Französischem von Karin von Hofer und Anneliese Botond. 177 Seiten. Frankfurt am Main, S. Fischer 1988.
Eine viel umfänglichere Sammlung in einer späteren Übersetzung ist unter demselben Titel bei Suhrkamp erschienen. 450 Seiten. 14, 50 Euro. Das hier besprochene Taschenbuch der Reihe „Fischer-Wissenschaft“ ist nur antiquarisch erhältlich.

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