Donnerstag, 5. März 2009

Christian Lehnert: Auf Moränen

Von Manuel Karasek

Bei Christian Lehnert viertem Gedichtband „Auf Moränen“ ist Paulus eine schwergeprüfte Gestalt, der an seiner Unfähigkeit, die Vollkommenheit des Glaubens in sich zu finden, leidet. Und er meint, die von höchster Stelle ihm anvertraute Mission, nicht erfüllen zu können. Einmal heißt es: „Was ich auch tue, es führt in den Tod./ Was ich auch lasse, es ist mein Versagen./ Wenn ich erwache/ falle ich zu einem Punkt zusammen.“ Das Verfahren, mit dem Lehnert Paulus konstruiert, ist hier interessant.
Paulus Briefe sind ja – wie weithin bekannt - Zeugnisse glühenden Glaubens. Jedoch sind die Bruchstellen innerhalb der Glaubensdarlegung mit ihrem immer wieder zum Ausdruck hervorbrechenden Ängsten vor dem Tod und den Unterlegenheitsgefühlen gegenüber leiblichen Bedürfnissen immer schon Futter für die Hermeneutiker gewesen. Für Lehnert sind diese Bruchstellen dialektischer Ausgangspunkt seiner 24 Vigilien (Stundengebete), die Paulus Mission thematisiert. Das ist einerseits schlüssig und schön, weil er sich einer historischen Note bedient - was durchaus typisch für eine DDR-Lyriksozialisation ist (Lehnert wurde 1969 in Dresden geboren), die von Heiner Müller bis Durs Grünbein reicht. Andererseits wirken die Vigilien aber auch wie ein Sandalenfilm in Versen.
Trotzdem ist die sprachliche Verve, mit der Lehnert die Lücken im Glaubenssystem Paulus’ ausleuchtet, nicht unbeeindruckend: „Paulus hörst du?/ Ich spreche deinen Namen nach/ bis er mir nichts mehr sagt.“ Das hat dann Methode, denn später sagt er: „Ich bin, doch nicht in mir.“ Oder er konstatiert: „Nicht ich lebe, der Kommende lebt in mir.“
Lehnerts Gedichte haben also einen theologischen Einschlag, der allerdings im Dienste einer Spekulation steht. Der Dichter dreht an Paulus’ apodiktischem System von Glauben und Wahrheit kritisch herum. Eine ähnliche biographisch grundierte Methode wendet er in dem zweiten Abschnitt des knapp 130 Seiten langen Bandes an. Da stehen die verschiedenen Identitäten im Werdegang Erich Mielkes im Mittelpunkt, die ebenso fragmentarisch behandelt und dialektisch aufgelöst werden. „Das ist die Liebe“, heißt es einmal, „sich selbst/ zu vergessen. Enteignung und Entblößung. Wer ist wer?/ Fritz Leistner, Paul Bach? Erich Mielke?/ Dass ich das nicht bestimmen kann/ ist meine ganze Würde.“
Als Fritz Leistner kämpfte Mielke im spanischen Bürgerkrieg, der später mit anderen zusammen aus der Idee eines aufgeklärten sozialistischen Staates ein Gefängnis für 17 Millionen Menschen machte. Das heißt für Lehnert im Rückblick: Wann entsteht der Augenblick, wo aus einem System mit überzeugender Kohärenz eine geschlossene Anstalt wird?
Der ist manchmal etwas sperrig zu lesen, aber intellektuell interessant. Der ganze Post-DDR-Ernst kommt allerdings in dem Abschnitt, in dem sich Lehnert mit seiner Zeit als junger NVA-Bausoldat auseinandersetzt, besser zur Geltung. Diese Beschreibungen der schweren, körperlichen Arbeit mit ihren Knochen- und Muskelpathos überzeugen. Auch (oder gerade) weil Lehnert beeindruckende Bilder findet. In einem Gedicht beispielsweise werden verkrüppelte Krähen beschrieben – ein selbst sprechendes Bild für die flugunfähige DDR-Individualität.
Die schönste Lyrik des Bandes sind dann die aus feinfühligen Beobachtungen bestehenden Gedichte über die ersten Monate seiner Tochter. Und auch hier findet er schöne Bilder. Er begegnet der Befindlichkeit des Säuglings mit einer ozeanischen Metaphorik. Da tummeln sich die Delphine und Quallen; und das kindliche Prä-Bewusstsein schwimmt blind und vertraut in derselben Strömung. „Sie weiß von keinem Feuer,/ keinen Rauchgaben, keiner Sintflut.“ Vielleicht mögen das einige überladen finden, man kann sich dem nicht anschließen.
Denn selbst nach mehrmaligen Lesen verlieren Lehnerts Gedichte nichts von ihrem warmen Ton, verbunden mit der weit ausgreifenden Bildkraft. Das ist sicherlich auch ein Ergebnis der von ihm ausgesuchten Themenschwerpunkte. Vielleicht wird man bei diesen Gedichten so empfänglich, weil in ihnen immer wieder ein Kerngedanke klassischer Theologie aufleuchtet: Nämlich die Frage, warum es im metaphysisch erfahrbaren System der Natur eine so universell unpersönliche Kraft gibt, die ausgerechnet den Menschen liebt. Und man wird das Gefühl nie los, dass Christian Lehnert einen alten emotionalen Umriss noch einmal neu fasst.

Christian Lehnert: Auf Moränen. Gedichte. 134 Seiten. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2008. 16,80 Euro

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