Montag, 2. März 2009

Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten

Von Manuel Karasek

Die denkbar schlechtesten Kritiken hierzulande hatte vor gut einem Jahr Jonathan Littells Roman über den Holocaust „Die Wohlgesinnten“ bekommen. Iris Radisch in der „Zeit“ bezeichnete den Autor als „Idioten“, Georg Klein in der „SZ“ erklärte, Littell verfüge über keine „Sprache des Bösen“. Selbst wohlwollende Kritiker wie beispielsweise Klaus Harprecht meinten, Littell habe sein umfangreiches Material zwar eindrucksvoll in den Griff bekommen - was ein gutes Essay ergeben hätte, sei aber bei der Arbeit in eine „Falle“ getappt, die in der ‚Natur’ des finsteren Sujets liege. Die Massenvernichtung aus der Perspektive eines Täters lasse, so Harprecht, als Romanthema keine Überhöhung zu, die sprachliche und formale Ausarbeitung führe automatisch zu Schmock und Kitsch – also „Die Wohlgesinnten“ seien schon von ihrem Ansatz her ein gescheitertes Projekt.
Damit wäre eigentlich alles klar gewesen. Die ‚Lebensbeichte’ des ehemaligen SS-Mannes Max Aue, die trotz des Umfanges von knapp 1400 Seiten in Frankreich fast eine Million Mal verkauft wurde, war ein kalkuliertes Machwerk, das darauf hatte bauen können, vom breiten Rücken der postmodernen Holocaust-Religion getragen zu werden. Doch nur wenige Tage nach den harschen Verrissen meldete sich der Soziologe und Psychologe Klaus Theweleit zu Wort, der mit seiner fundierten Studie „Männerphantasien“ als Koryphäe der Faschismusforschung gilt – und in der öffentlichen Wahrnehmung auch kein Unbekannter ist. Nicht Littells Roman sei gescheitert, so Theweleit, sondern die deutsche Literaturkritik. Hauptsächlich habe sie nämlich übersehen, dass die literarische Darstellung der Shoa aus dem Blickwinkel eines Mörders zu keiner Kunstsprache a’ la Thomas Mann führen könne. Die Rezensenten, allen voran Iris Radisch, hätten aufgrund ihrer falschen Erwartungen einen wichtigen Aspekt von Littells Konzept nicht verstanden. Auch er, Theweleit, habe erst nach 700 Seiten begriffen, dass dieser Kitsch und Schmutz unverzichtbarer integraler Bestandteil von Max Aues Psyche wäre - und sich dementsprechend auf seinen 'Stil' auswirke. Und liest man beispielsweise die Ausschnitte der faschistischen Freikorpsliteratur der 20er Jahre, die Klaus Theweleit immer wieder und sehr zahlreich als Beispiele in „Männerphantasien“ (1977 erschienenen) eingefügt und kommentiert hat, kann man nicht übersehen, dass es regelrecht auffällige Strukturähnlichkeiten zwischen der Figur Aue und den historischen Zeugnissen gibt.
Frappant ist es schon, dass Max Aue eine inzestuöse Beziehung zu seiner Zwillingsschwester Una führt – und dass bei fast allen Autoren der Freikorpsliteratur (zu deren Autorenkreis übrigens auch Ernst Jünger gehörte) eine starke Neigung zum Inzest unübersehbar war. Frappant auch, dass sich hinter dem Postkartenkitsch des Ich-Erzählers Max Aue eine irritierende Gefühlsöde verbirgt, die eindeutig mit den sentimentalen Berichten und Erinnerungen vieler ehemaligen Soldaten des Ersten Weltkrieges (aus dem die Freikorps hervorgingen) korrespondiert – und die eine Gemeinsamkeit aufzeigt: Ihren Hang zur fast uneingeschränkten Destruktivität. Daraus leiten sich schließlich zwei Fragen ab. Warum hat die deutsche Literaturkritik diese auffällige Parallele nicht aufgreifen können? Oder war etwa nur Klaus Theweleit, durch seine Forschungsarbeit am Faschismus besonders sensibilisiert, in der Lage, Littells Buch zu begreifen?
Dazu muss man wissen, wie professionelle Literaturkritik unter marktabhängigen Kriterien funktioniert – oder besser: zu funktionieren hat. Beispielsweise war auffällig, dass Iris Radisch Jonathan Littells sprachliche Handhabung die Nähe zum „Thriller“ attestierte, was im Kontext eine eindeutig negative Wertung bedeutete. Andere Rezensenten hatten einen ähnlichen Katalog von Vorwürfen herausgearbeitet. Daran lässt sich der Charakter literarischer Ableitungen ablesen, die dann „Die Wohlgesinnten“ im Zusammenhang mit der industriellen Publikation von Bestsellern stellt. Was in Theweleits Blick zum Hinweis und zur Verarbeitung fast eines Gegenentwurfs zu einer konservativen Ästhetik geriet, war für die Literaturkritik (das gilt natürlich nicht für alle) der Versuch billiger Provokation und Effekthascherei. Die daraus sich ergebende Hypothese hätte schließlich gar nicht lauten müssen, dass die Literaturkritik gescheitert war, sondern dass sie sich gelegentlich überfordert fühlt – nicht von Littell selbst, sondern eher von dem Massenkulturprodukt Buch.
Literaturkritische Interpretationen der Belletristik neigen dazu, zirkulär zu sein. Das heißt, sie beziehen sich stets auf bestimmte Teile des Kanons und auf bestimmte stark ausgeleuchtete Momente im Radius der Veröffentlichungen der letzten Jahre. Was bei einer Kritik an professionellen Rezensenten oft vergessen wird, ist, dass Literaturkritik, sobald sie sich im Focus verstärkter Wahrnehmung befindet, dazu tendiert, konservativ zu sein. Und es ist gar nicht mal so sehr Werteerhaltung, die daraus spricht, als vielmehr die Neigung, wohl vertrautes Gelände – auch weil es so groß ist – nicht zu verlassen.
Littells Roman produzierte in der zeitgenössischen Wahrnehmung somit zwei Lesarten. In der einen hatten „Die Wohlgesinnten“, trotz der zahlreichen Einfügungen des SS-Beamtenjargons, eine unübersehbare Nähe zu einer globalisierten Bestsellerkultur, die ein historisches Ereignis von einer solchen Tragweite bestenfalls in seiner Darstellung 'fotokopieren' konnte - und damit einen speziellen Vouyerismus des weltweit an dem Thema interessierten Buchkunden bedient. In der anderen blitzten der Schrecken aus dem Schatten Max Aues hervor – und seine Biographie wurde nicht als Schule individuellen Werdens begriffen, sondern als destruktiver Ausdruck einer generellen Pädagogik ihrer Zeit, die die Eliminierung großer Bevölkerungsteile mit unvorstellbarer Unempfindlichkeit legalisierte.
Dass man bei der Interpretation oftmals darauf beharrte, Littells Hauptfigur sei im Kern inkonsistent und partikular, hängt damit zusammen, dass im literarischen Bewusstsein selbst finsterste und skrupelloseste Gestalten wie beispielsweise Richard III. oder der revolutionäre Terrorist Pjotr Werchowenski aus Dostojewskis „Die Dämonen“ ihr zerstörerisches Werk in einem Umfeld tätigten, die ihre kriminelle Energie wahrnahm. Und zieht man selbst einen Roman aus jüngerer Zeit, Bret Easton Ellis 1999 erschienenen Roman „Glamorama“, zu Rate, der sich mit der Dynamik des Bösen auseinandersetzt, so fällt im Vergleich zu „Die Wohlgesinnten“ eines besonders auf. Victor Ward – der Ich-Erzähler in Ellis Roman – taumelt zwar von Drogen benommen in eine groteske und gefährliche Terrororganisation (die sich als Modeunternehmen tarnt), er ist aber nie so stoned, dass sich sein Mitgefühl verflüchtigt.
Es gibt zwei Szenen in „Die Wohlgesinnten“, die Max Aues Unempfindlichkeit – seine Unfähigkeit zum Eingeständnis des Bösen aus dem Geiste längst verinnerlichter Verrohung - stärker ausleuchten, als die von Teilen der Kritik als Pornographie gebrandmarkten Erschießungsszenen. Auch weil sie eher argumentativ operieren und somit subtiler in ihrer Wirkung sind. In der einen erklärt Aues guter Freund Voss (ein Ethnologe), dass die Rassenlehre wissenschaftlich unhaltbar sei und außerhalb Deutschlands von keiner seriösen Akademie ernst genommen werde; man könne also irgendeinen auf der Straße einfach aufgreifen, ihn zum Juden erklären und daraufhin exekutieren, es mache keinen Unterschied. In der anderen Episode trifft Aue auf den Arzt Dr. Wirth, der die Folgen der Massenvernichtung beim Wachpersonal untersucht. Dieser berichtet unter anderem, dass ein Großteil des Sadismus’ des Wärters gegenüber seinen Häftling auf die uneingestandene Erkenntnis des Täters beruhe, dass sein Opfer kein Untermensch sei, sondern auf skandalöse Weise gleichrangig – was letztendlich das Paradoxon ungehemmter Brutalisierung hervorbringe.
Aue hört beiden zu – und nimmt an der Vernichtung weiter teil. Zusammenfassend lässt sich dann sagen: Damit aus Max Aue eine wirklich böse Figur im klassischen Sinne würde, bräuchte er etwas so Universelles wie ein Gewissen, ergo ein Mitgefühl für die anderen – und eine Gesellschaft, die dies nicht grundsätzlich ablehnt. Vielleicht beruht die Verständnisschwierigkeit der „Wohlgesinnten“ gerade darauf. Allerdings ging es schließlich um mehr als um Literatur. Die Rezensionen in Deutschland legten vor allem eine Behauptung frei, die in der scheinbaren Feststellung mündete, dass man die Komplexität totalitärer Staaten wie dem des nationalsozialistischen Deutschlands nicht mehr erklärt zu bekommen bräuchte. Bei genauerem Hinsehen erwies sich das gerade als ein verinnerlichter Reflex der Abwehr.

Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten. Roman. Aus dem Französischen von Hainer Kober. 1381 Seiten. Berlin Verlag. 36 Euro.

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