Montag, 26. Januar 2009

Stendhal: Die Kartause von Parma

Von Manuel Karasek

In dem berühmten, neu übersetzten Roman „Die Kartause von Parma“ von Stendhal verfolgt man etwa in der Mitte des Buches, wie sich zwei junge Leute, obwohl sie sich kaum kennen, mächtig ineinander verlieben. Daran mag nichts Besonderes sein. Jedoch ist die Situation, in der sie sich begegnen, der Fixpunkt, an dem sich alle Kräfte des Romans sammeln. Ein Gefängnis ist gerade der Ort der romantischen Begegnung. Bei der einen Figur handelt es sich um den adligen Helden Fabrizio del Dongo - eine durchgehend draufgängerische Natur, die wegen eines angeblichen Mordes im wuchtigen Turmverlies von Parma sitzt. Der andere junge Mensch ist eine blonde Provinzschönheit, Clelia Conti mit Namen, die gegenüber vom Turm auf dem Dach eines Nebengebäudes ihre große Sammlung von Ziervögeln pflegt.
Die beiden jungen Menschen können einander nur aus der Entfernung sehen, werden auch getrennt von den Wachen. Der jeweilige Fensterausschnitt ist im Grunde alles, was Ihnen zu Gebote steht. Sie haben sich im Laufe der abenteuerlichen, ja fast überschlagenden Handlung, die Stendhal im April 1839 in Paris in zwei Bänden veröffentlicht, zwar zweimal gesehen, aber dabei nicht ein einziges Wort gewechselt.
Das holen sie nun auf eine besondere Weise nach. Auf großen Zetteln schreiben sie die einzelnen Buchstaben des Alphabets. Nächte lang kommunizieren sie so – voller Leidenschaft und Inbrunst. Es stört auch nicht, dass die ziemlich langwierige Mitteilungstechnik sich mehr für SMS-kurze Botschaften eignet. Stendhal lässt Fabrizio und Clelia Dialoge führen, die wie Senatorenreden oder Opernarien anmuten. Es beschleicht einem eine gewisse Unruhe während der Lektüre: Eine ziemlich ambivalente Szene, meint man; und nicht unbedingt der italienischen Realität um 1825 abgeschaut. Aber man täuscht sich zum Teil.
Was Stendhal, der in Italien lange Zeit als französischer Konsul lebte, in seinem 650seitigen grandiosen und von Elisabth Edl wundervoll übersetzten Roman einfing, war vor allem der italienische Geist. Dieser, wie er sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts präsentierte, ist von Stendhal derart kunstvoll erfasst, dass man glaubt, während des Lesens danach greifen zu können. Denn die Gefängnisepisode mit der deutlichen Note an Melodramatik erinnert durchaus an Opernszenen, ist aber auch deutlicher Hinweis auf eine politische Realität des damaligen Norditalien.
Stendhal vermischt in seinem letzten Roman, der sein einzig großer Bucherfolg zu Lebzeiten wurde, geschickt zwei Elemente und erreicht damit unglaubliche Effekte. Zum einen benutzt er alte italienische Novellen aus der Renaissance als Model für seine wechselvolle Geschichte, die dadurch teilweise den Charakter eines Mantel-und-Degen-Romans erhält. Zum anderen orientiert er sich an der Wirklichkeit der absolutistischen Kleinstaaten in Norditalien, die allesamt Produkte der Restauration nach 1815 waren – und wo Liberale schon mal für Jahrzehnte in die dunklen Verliese der von Österreich protegierten Fürsten landeten. So schwankt Stendhals Roman ständig zwischen ziemlich unwahrscheinlichen Gegebenheiten und einer genauen Erfassung realistischer Vorgänge, ist gleichzeitig düsteres Märchen und faszinierende Beschreibung der Korruption an italienischen Provinzhöfen. Balzac, der große Kollege, fand letzteres derart beunruhigend, dass er Stendhal bat, die Stadt Parma im Titel nicht zu nennen.
Der wesentlich jüngere Balzac, der die ‚Kartause’ enthusiastisch gefeiert hatte, hatte gute Gründe dafür. Nicht unweit von Parma, in Modena, herrschte einer jener Kleinstaatdespoten, die dem fiktivem Ernesto IV. so ähnelten. Man konnte durch die ‚Kartause’ schon politische Verwicklungen fürchten. Einerseits zeichnet Stendhal, der mit bürgerlichen Namen Henri Beyle hieß, seinen Fürsten als Karikatur eines Herrschers. Andererseits zeigt er mit Ernesto IV. einen typischen Vertreter der Restauration, einen reaktionären Mann, dem die Seele brennt, die Geschichtsuhr mit aller Gewalt zurückzudrehen. Das politische Spannungsfeld der sich widersprechenden politischen Ansichten zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist schließlich der thematische Schwerpunkt des Romans. Er zeigt sich als Riss durch die Generationen und gibt Stendhals Geschichte seine unwiderstehliche Dynamik – die schließlich in der Gefängnisszene kulminiert.
Denn Stendhals Held, Fabrizio del Dongo, empfindet zu Beginn der Handlung sein väterliches Umfeld in Mailand als verstaubt – und nimmt die erste Gelegenheit wahr, sich in der napoleonischen Armee auszuzeichnen. Der Roman ist ja weltberühmt für die Passagen, in denen geschildert wird, wie der 17jährige del Dongo an der Schlacht in Waterloo teilnimmt. Wie Stendhal die Realität eines sinnlosen Gemetzels einfängt, es durch den naiven Blick seines Protagonisten konterkariert, dessen Handlungsweise übrigens an Parzival gemahnt – und dabei stets den einzigartig funkelnden ironischen Erzählton hält: Das ist staunenswert und verliert nie an Frische. Dieser Erzählmodus hat aber auch über die berühmte Kriegsszene hinaus etwas Bezirzendes.
Während nämlich der jugendliche Draufgänger Fabrizio im spätnapoleonischen Frankreich herumirrt, gelingt es seiner Tante, die Herzogin Piacenza, am Hof von Parma Fuß zu fassen und sich mit dem Minister, Graf Mosca, zu verbünden. Beide schmieden für Fabrizio, der wegen seines Eifers für den französischen Kaiser vom Vater verstoßen wurde, eine Karriere als Bischof – was grotesk bei einer Figur anmutet, welche die Finger von den Frauen nicht lassen kann. Letzteres bringt Fabrizio schließlich auch ins Gefängnis, weil er im Streit um eine Schauspielerin den Liebhaber versehentlich tödlich verletzt. Das ist streng genommen, so verdeutlich das Stendhal immer wieder auf subtile Weise, eine Lappalie, für die ein Adliger nicht wirklich belangt werden kann.
Stendhal macht aber aus diesem Fall eine sensationelle Parodie der politischen Verhältnisse des damaligen Italiens, gestaltet ihn zu einem Provinzskandal, der das Fürstentum Parma in seinen Grundfesten erschüttert. Zwei Parteien streiten nämlich um die Gunst Enrico IV. Auf der einen Seiten Graf Mosca und die Herzogin, auf der anderen die Gräfin Ranieri mit ihren Dunkelmännern Rassi und Conti, wobei letztere hohe Tiere des Polizeiapparates von Parma sind. Fabrizio ist ohne sein Wissen lediglich Spielball beider Mächte. Deswegen entbehrt es nicht der Ironie, dass sich Fabrizio in die schöne Tochter von Gefängnisdirektor Fabio Conti verguckt – und damit die Pläne beider Parteien unfreiwillig unterwandert. Mehr Oper konnte Stendhal, der die Musik von Rossini und Cimarosa liebte, in seinen Stoff wohl nicht einbauen. Es ist schon großartig, wenn in der ‚Kartause’ geliebt wird: Fehlt eigentlich nur noch das Orchester.
Natürlich führt diese Sprache, sobald sie Begierde und Verlangen thematisiert, durch ihre Nähe zur Form eines Librettos zu bizarren Ergebnissen: Die Herzogin ist schwer verliebt in ihren Neffen Fabrizio, Graf Mosca liebt dieselbe, Enricio IV. liebt ebenfalls die Piacenza, fühlt sich aber von ihr zurückgewiesen und lässt deswegen kurzerhand Fabrizio verhaften. Clelia liebt eigentlich Fabrizio, will aber ihrem Vater die Karriere nicht versauen, heiratet statt Fabrizio einen anderen – und so geht das in einem fort. Die Kartause ist teilweise eine großartige Soap des 19. Jahrhunderts und gehört zusammen mit den Romanen Balzacs zu den bedeutendsten Werken der Literatur, die in Frankreich zwischen 1830 und 1840 erschienen. Gemeinsam ist ihnen vor allem, dass sie äußerst kunstvoll Kolportageelemente in ihren Romanen integrieren.
Gerade dem Schwung, der von diesen ‚Trivialmustern’ ausgeht, kommt die Übersetzung entgegen. Manche Umständlichkeiten alter Übertragungen sind nun weg und auch die Dialoge wirken jetzt pointierter. Die Gefängnisszene ist übrigens auch ein Spiegelkabinett der Pathologien der Figuren von Stendhal. Dass sich Fabrizio erst in der Gefangenschaft ernsthaft verliebt, weckt den Freudianer in einem. Offenbar macht manch eine Liebe nicht frei. Und so eine Kerkerhaft ist ja auch etwas Feines – nicht?

Stendhal: Die Kartause von Parma. Roman. Neu übersetzt von Elisabeth Edl. Carl Hanser Verlag, München, 2007. 998 Seiten. 34,90 Euro

Sainte-Beuve

Von Manuel Karasek

Von Charles-Augustin Sainte-Beuves umfangreichem Werk gibt es im Deutschen nicht mal einen Band mit einer Auswahl seiner Texte. Die letzte Ausgabe erschien in der „Dieter’schen Verlagsbuchhandlung zu Leipzig“ 1958 – und erlebte 1969 noch eine zweite Auflage. Lediglich als Kommentator berühmter Werke mag er hierzulande einigen wenigen im Gedächtnis geblieben sein – und als Titel eines reifen Frühwerks von Marcel Proust, der sich auch noch gegen ihn wendet: „Gegen Sainte-Beuve“. In den deutschen Ausgaben von Flauberts „Madame Bovary“ und Ernest Feydeaus „Fanny“ geistert jeweils ein von ihm verfasstes Nachwort herum – gerade mal der Bruchteil eines in Frankreich Regalreihen ausfüllenden Werkes.
Ist der ehemals bedeutende Kritiker, der von 1804 bis 1869 lebte - und solche „Kanonen“ wie Stendhal, Balzac, Baudelaire und Flaubert rezensierte, heutzutage also zu Recht vergessen? Muss man den Grund dafür suchen in dem Umstand, dass Sainte-Beuves Werk keinen Nachhall erzeugte - weil er in die Literaturgeschichte als Kritiker einging, der die Großen seiner Zeit verkannte? Zum Teil entspricht das der Wahrheit – und verfälscht wiederum dieselbe. „Madame Bovary“ beispielsweise lobte Sainte-Beuve, bemerkte das Kühne wie Neue in Flauberts Roman, bemängelte lediglich, dass „das Gute darin sehr ferngehalten“ sei.
„Warum hat Flaubert uns“, so Sainte-Beuve weiter, „nicht eine einzige Figur geschenkt, die imstande wäre, den Leser durch einen guten Anblick zu trösten und zu beruhigen, warum hat er ihm einen einzigen Freund ausgespart?“ Die Passage in der am 4. Mai 1857 erschienenen Rezension trägt die Züge eines bemerkenswert starken Bedauerns, in dem noch etwas anderes mitzuschwingen schien. „Das Werk als Ganzes trägt wohl das Zeichen der Stunde“, schrieb er. Und fügte hinzu: „Sohn und Bruder von angesehenen Ärzten, führt Monsieur Gustave Flaubert die Feder wie andere das Skalpell. Anatomen und Physiologen, euch finde ich überall.“
Es erscheint uns heute als Selbstverständlichkeit, dass Gustave Flaubert auf die Figuren mit den guten Eigenschaften verzichtet hat. Wir begreifen den negativen anthropomorphen Umriss als untrügliches Zeichen der Moderne – und mit Madame Bovary begann die Moderne, durch die evident die zweifelhafte Natur des Menschen sich offenbart. Die Bewunderung zum Kunstwerk Flauberts, das wir empfinden, in Kombination um das Wissen der Geschichte im 20. Jahrhundert scheint uns deutlich zu machen, dass wir uns selbst nicht trauen können. Wir leben ohne Freunde!
Aber wie sah man das 1857 – ohne das überwältigende Hintergrundrauschen vergangener Katastrophen? Sind „Anatomen und Physiologen“ etwa schreckliche Erscheinungen - herzlose Wissenschaftler im Dienste sezierender Lehren? Wenn man von der Kritik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts spricht, wird sie mit unseren heutigen Bedingungen verglichen – ein verständlicher Reflex, der allerdings unterschlägt, dass beispielsweise Sainte-Beuve nicht eben nur moralisierte, als er bei den Autoren seiner Zeit das „Zeichen der Stunde“ sah.
Wissenschafts- und Fortschrittsgläubigkeit waren eine Seite der Medaille Mitte des 19. Jahrhunderts – die Rückseite mit der Positivismuskritik, die sich in „Madame Bovary“ als subversive Hinterfragung der bürgerlichen Werteordnung artikulierte, löste bei Sainte-Beuve eher sein Unbehagen aus. Er definierte die Faszination, welche die „Technik“ im Denken der Menschen ausübte, nicht allein als ökonomisches Phänomen. Die „Technik“ war auch in das Kunstwerk eingedrungen – sie drückte sich im Stil aus. Gerade durch die Lektüre von Flauberts Roman musste er feststellen, wie die Literatur auf die Modernisierungsprozesse nahezu spiegelbildlich reagierte. Sitten der Provinz heißt er ja im Untertitel, was passt. Denn Sainte-Beuve konstatierte, dass der Beschleunigung durch die Technik die Langsamkeit tradierter Strukturen in Verhalten, Denken und Fühlen gegenüber stand.
Für ihn eine Disharmonie, eine Unüberbrückbarkeit. Zwischen den Bedingungen industriellen Fortschritts und individuellen Ethos’ klaffte ein Abgrund. An die wechselhaft gesellschaftlichen Gegebenheiten orientiert, so Sainte-Beuve, muss der Einzelne dauernd Wertigkeiten in Frage stellen. Das Eisenbahnnetz verkürzt nicht nur die Strecken, sondern verändert vor allem das Verhalten und die Beziehungen. Nach Sainte-Beuve war es den Menschen nicht möglich, von heut auf morgen die neue Technik in sein Beziehungsnetz zu integrieren. Die Folge wären Entfremdung, Indolenz, ethische Gleichgültigkeit. Gerade in manchen Schriftstellern seiner Zeit sah er eben jenes Walten der „Anatomen und Physiologen“, die scheinbar Gefallen fanden an der eigenen Unempfindlichkeit gegenüber dem Schicksal ihrer Figuren.
Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass sich der tief im 19. Jahrhundert verwurzelte Sainte-Beuve und der österreichische Schriftsteller und Holocaustüberlebende Jean Amery in ihrer Kritik an Flaubert treffen. Beide operieren aus unterschiedlichen Richtungen, kommen aber kurioserweise zu ähnlichen Ergebnissen. In seinem Roman-Essay „Charles Bovary, Landarzt“ erzählt Amery die Geschichte Flauberts aus der Perspektive Charles Bovarys, des treuen Ehemannes von Emma. Das Besondere an dieser ungewöhnlichen Methode manifestiert sich im letzten Kapitel, wo sich Charles Bovary gegen seinen Schöpfer wendet. Er klagt Flaubert an, mit Emma sympathisiert zu haben. Ihr Scheitern wandle er im Nachhinein in einen Sieg der Kunst über die herrschende bürgerliche Ordnung um.
Aus der Sicht von Amerys Figur demonstriere Flaubert anhand seiner unangepassten Romantikerin, mit den Beschreibungen ihrer unglücklichen Liebschaften und ihrem Selbstmord die Gleichgültigkeit des gesellschaftlichen Umfelds. Der Skandal aber sei, dass der Schriftsteller gegenüber Charles Bovary gerade jene Indolenz walten lässt, die er dem Bürgertum während der ganzen Romanhandlung vorhielt. Charles, der liebe Trottel, der den Tod seiner Frau nicht verwinden kann und wenig später stirbt – der einzig „Gute“ in der Bürgertragödie: Er ist das Opfer einer innovativen Sichtweise. Flaubert darf durchaus als Erfinder jenes Erzählens gelten, in der die gottähnliche Perspektive keine Einmischung in die Handlung von Seiten des Autors erlaubt. Sie wurde zum narrativen Gesetz der Moderne. Gerade daran stoßen sich Amery und Sainte-Beuve, überschneiden sich in ihrer Kritik auf spektakuläre Weise.
Denn Sainte-Beuves literaturkritische Apparatur speiste sich aus der französischen Tradition des 17. und 18. Jahrhunderts. Egal ob es sich um die Briefe Madame de Sevignés oder die Romane Madame de la Fayettes, die Reflexionen eines la Rochefocauld oder Pascals, die Stücke eines Corneilles, Molieres oder Racines handelt – in all diesen Werken gab es aus dem Blickwinkel Sainte-Beuves stets die Einbindung des Autors an das fiktionale Geschehen. Verkürzt dargestellt: Der Schriftsteller konnte, solange Gott an seinem Platz war, Gott nicht sein. Die nun sich säkularisierende „Entfernung“ zwischen Autoren im 19. Jahrhundert und ihren Figuren war für Sainte-Beuve stets Anhaltspunkt seiner Kritik an Balzac, Flaubert und anderen. Er spürte diese Kühle und Distanz als Momente der Diskrepanz auf, die wechselweise ein Licht auf den Zustand der Gesellschaft und ihrer kulturellen Produktion warfen.
Wolf Lepenies Biographie, vor der Verleihung des Friedenspreis’ des Deutschen Buchhandels 2006 an den Autor erschienen und merkwürdig sparsam rezensiert, trägt den Untertitel „Auf der Schwelle zur Moderne“. Besser kann man diesen nicht wählen. Er porträtiert in seinem überaus aufregend zu lesenden Buch Sainte-Beuve als Figur, deren Wirkungszeit von einem dramatischen Paradigmenwechsel geprägt war. Das Erstaunliche dabei ist, dass Lepenies unterhalb seiner fundierten Studie über den französischen Paradekritiker des 19. Jahrhunderts subtextlich die Frage nach heutiger Standortbestimmung stellt – fernab postmoderner Verortungen. Wo, wenn wir den Werdegang Sainte-Beuves verfolgen, befinden wir uns jetzt? Er kann die Frage natürlich nicht direkt beantworten, er löst aber das Problem über Umwege. Allein schon die Wahl seines Sujets verdeutlicht seine Absicht: Er stellt einen Autor in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen, der keine „Schule“ gründete – und verweist damit auf einen paradoxen Aspekt der Moderne.
Den offensichtlichen Widerspruch jener Epoche erkennt Lepenies entlang Sainte-Beuves Denkens als Kernproblem: Die Unversöhnlichkeit zwischen rasanten technischen Fortschritt und den ontologischen Bedingungen des Menschen wird heute noch unter der Schwerkraft einer Zuspitzung betrachtet. In der mehr oder weniger eingeengten Sichtweise ist der Mensch ein Schauspieler, innerlich gerüstet wie ein Hoplit – von außen betrachtet wartet er aber auf einen Bahnhof auf seinen Zug. Das bedeutet: In den letzten zweihundertfünfzig Jahren begriff er sich als aufgeklärt und erfuhr sich gleichzeitig als Barbar. Das lässt selbstverständlich an Heideggers Kritik an die Moderne denken. Doch: „Nichts ist komplizierter als ein Barbar“, schrieb Gustave Flaubert 1863 Sainte-Beuve, nachdem dieser „Salammbó“ rezensiert hatte.
Sainte-Beuve, so Lepenies im letzten Kapitel seiner Biographie, ist nicht Verkünder dieser Engführung, nicht vorausschauender Philosoph im Dienste der Warnung oder ein verkannter Montaigne seiner Zeit – der übrigens als heimliches Vorbild des Literaturkritikers ausgemacht wird. Also ist Sainte-Beuve nicht bedeutend? – so müsste man schlussfolgern. Gut, warum aber dann 580 Seiten jemanden widmen, der zweitrangig ist? Weil – das liegt die Lektüre nahe - das Verständnis von Erstrangigkeit für Lepenies im Zusammenhang mit der Arbeit über Sainte-Beuve ein Problem der Moderne darstellt.
Aus dieser biographischen Binnenbetrachtung heraus gewinnt man den Eindruck, dass sich die Moderne trotz oder gerade wegen ihrer wackligen Parameter Gewissheit schaffen musste, es gäbe Konstanten – Größenordnungen, an denen nicht zu rütteln wäre. Jeder Kanon, in welcher Kunst auch immer, ist schließlich Spiegelbild dieses Bedürfnisses. Das heißt für Wolf Lepenies nicht, dass Gustave Flaubert oder ein anderer „Großer“ unter etwaig veränderten Maßstäben etwas von seinen Glanz verlieren würde. Das ist überhaupt nicht der Fall.
Doch Großbegriffe helfen einfach nicht, wenn man das Panorama als etwas erkannt hat, was es ist: paradox und bisweilen unüberblickbar. Wolf Lepenies hat mit Sainte-Beuve also nicht einen zweitrangigen Autor detailreich nachgezeichnet, sondern einen spannenden, geistreichen und klugen Kopf seiner Zeit mit einer eindrucksvollen Obsession portraitiert – einen Mann, dessen Analysen in unsere hineinreichen. Dass dieser übrigens wundervoll schreiben konnte und ein großer Leser – ergo dann doch bedeutend war, offenbaren die zahlreichen von Lepenies selbst übersetzten Passagen in seinem Buch. Einer seiner Artikel begann Sainte-Beuve mit dem schönen Satz: „Wir haben schon lange nicht über Vergil gesprochen.“ - und wir lange nicht über Sainte-Beuve.

Wolf Lepenies: Sainte-Beuve. Auf der Schwelle zur Moderne. Dtv, München, 2006. 600 Seiten. 19, 50 Euro

Sonntag, 25. Januar 2009

Gustave Flaubert: L’Éducation sentimentale

Von Manuel Karasek

Als Gustave Flauberts Roman „L’Éducation sentimentale“ im November 1869 erscheint, reagiert die französische Kritik überwiegend mit Verrissen. Hauptsächlich wirft man dem Autor vor, dass im Mittelpunkt seines Epos, das größtenteils in den Jahren 1840 bis 1851 spielt, ein durchschnittlicher Charakter steht, ein Held, der jedwede Form heldenhafter Attribute vermissen lässt. Das verwundert die Kritik deshalb so stark, weil die 600seitige Handlung mit der Darstellung der Revolution von 1848 ihre Zuspitzung erfährt, das Ende der Regentschaft des „Roi Citoyen“ Louis Philippe I. dramatischer Wendepunkt in den Biographien von Flauberts Figuren ist. Geradezu befremdlich muss einem Teil der Pariser Rezeption, die mehr oder minder in jene historischen Ereignisse involviert war, die überwiegend talentlose Hauptfigur vorkommen. Gab es 1848 etwa keine großen Männer?
Tatsächlich ist Frédéric Moreau ein unsäglicher Langweiler, talentlos bis in die Knochen. Durchaus hat der Held aber jene tragischen Züge, wie man sie beispielsweise aus den Romanen Balzacs kennt: Der Hang zum süßen Leben in den oberen Etagen, die unglückliche lebenslange Liebe zu einer Frau. Diese Mischung aus Opportunismus und theatralischer Romantik bleibt nicht unbemerkt. Eigentlich entspricht die Geschichte, die nahezu minuziös einen gesellschaftlichen Sturz nachzeichnet, der Vorstellung von fiktionalen Modellen der damaligen Zeit. Auch in „Lehrjahre des Gefühls“ prallen individuelle Hybris und die urbanen Mechanismen von Karriere und Macht aufeinander. Doch man kommt nicht überein. Die brutale Polemik Barbey d’Aurevillys – des Chefkritikers vom „Le Constitutionnel“ -, der Flauberts Buch als „Verpestung“ brandmarkt, ist da sicherlich die hysterischste Reaktion einer fast mehrheitlichen Ablehnung.
Der Roman bleibt zunächst unverstanden, weil man der Zeit gemäß davon ausgeht, dass Männer Geschichte gestalten – und nicht umgekehrt. Und entsprechend hat auch das Interieur eines Romans auszusehen. Das Konzept Flauberts wird aber gerade von der Idee getragen, dass nicht der Einzelne die Verhältnisse bestimmt, sondern die Summe aus sich widersprechenden Handlungen. Das ist für 1869 neu - dieser soziale Blick, der die distanzierte Beschreibung des Scheiterns bürgerlicher Bestrebungen prägt. Eine gewisse analytische wie amüsierte Kühle umgibt die Deskriptionen, die sich um die Lächerlichkeit des Versagens drehen. Frédéric ist ein unentschlossener Charakter, der einmal deutsche Walzer komponieren, später eine Geschichte der Renaissance schreiben möchte – und beides nicht abschließt.
Eine Episode zeigt dagegen eindrucksvoll, wie hintergründig Flaubert einzelne Handlungsstränge gegeneinander laufen lässt. In Zentrum der Geschichte steht die Liebe Frédérics zu Madame Arnoux, einer verheirateten Frau mit zwei Kindern. Mitten in den Revolutionswirren mietet der 26jährige junge Mann eine Wohnung, um endlich mit der Angebeteten allein zu sein. Doch Frédéric wartet an jenem Tag vergeblich, denn was er nicht weiß, ist, dass Marie Arnoux’ kleiner Sohn schwer erkrankt ist. Die gläubige Katholikin meint darin eine Strafe für ihre ehebrecherische Liebe zu sehen – und schwört ihrer Neigung ab. Gerade solche Sequenzen begeistern wiederum George Sand und Émile Zola. Sie verteidigen den Roman gegen die massiv negative Kritik mit einer Vehemenz, die die Rückseite der polemischen Debatte bildet.
Der Roman sei „so vielfältig wie die lebendige Realität“, schreibt etwa George Sand. „Dieses zu wahre Buch“, ergänzt Émile Zola. Kein Roman – so stimmen beide überein - erreicht also eine so beängstigende Nähe zur Wirklichkeit wie „L’Éducation sentimentale“. Doch um diese Realität geht es nicht. Vielmehr dreht sich der Diskurs um Weltbilder und Werteordnungen. Die im Roman beschriebene Gesellschaftsordnung der 1840er Jahre, so umreißt es George Sand im Dezember 1869 nämlich, beweise, dass diese „in die Phase ihrer Auflösung“ eingetreten sei. Und Zola schreibt zehn Jahre später: „Hier bin ich in meiner Erbärmlichkeit erfasst.“ Was beide gemein haben - obwohl die eine politisch, der andere anthropozentrisch argumentiert, ist ihre Überzeugung, dass der Mensch schlecht sei; und Gustave Flaubert ist der Apologet dieser unumstößlichen Wahrheit. Gerade aber diese Deutung ist höchst problematisch.
Von einer genauen Wiedergabe der Realität als Merkmal kann nur eingeschränkt die Rede sein. Man schaue sich die psychischen Grundrisse der Freunde von Frédéric einmal genauer an: Deslaurier ist ein verbitterter Anwalt, der sich fortwährend in unmögliche Projekte verbeißt. Hussonnet scheitert als Autor von Boulevardstücken, um schließlich als windiger Zeitschriftenverleger zu agieren. Pellerin ist ein schauerlich mittelmäßiger Maler, Senécal ein politischer Opportunist und Hetzer; und Jacques Arnoux ist als Kunsthändler und Unternehmer ein Scharlatan – immer nahe am kriminellen Deal. Ist etwa so die Realität?
Flaubert hat bei der exakten Ausarbeitung des Stoffes seine Figuren fast bis ans Groteske überzeichnet. So funktioniert dann die Gegensätzlichkeit im Roman: Man verfolgt eigentlich langweilige Gestalten bei ihren dubiosen Geschäften – gerade aber das ist spannend zu verfolgen. Der Realismus des Werkes mag die Zeitgenossen entweder abgestoßen oder fasziniert haben. Der soziale Blick des Autors ist wahrlich kühn: Wo Balzac seine Figuren im hegelschen Sinne mit dem „Weltgeist“ ausstattet, treten bei Flaubert die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse stärker hervor: Bürgersöhne als Snobs, Pseudoadlige, Salonrevolutionäre; Arbeiter und Frauen aus dem dritten Stand mit ihren bitteren politischen Träumen; das steinreiche Unternehmerehepaar Dambreuse, die krummen Geschäfte von Hussonnet und Arnoux; Kunst, Literatur, Geld, Liebe, Politik. Kurz: Seelen, die im Wandel der Zeiten die Orientierung verlieren. Die Romankonstruktion besticht durch eine atemberaubende Fülle sich ergänzender Details, die sich dauernd motivisch verwandeln.
Und doch speist „L’Éducation sentimentale“ ihre Kraft nicht ausschließlich aus den beschriebenen gesellschaftlichen Gegebenheiten. Da ist eine Verzweiflung und Wut zu spüren, die mit Flauberts Befindlichkeit selbst zu tun hat. Man schaue sich mal genau an, wie die Beziehungen zwischen Frédéric und seinen Freunden beschrieben werden. Er und Deslaurier ziehen eine Zeitlang zusammen – und benehmen sich wie ein junges Ehepaar, schauen sich immer wieder verliebt in die Augen und kaufen gemeinsam die Einrichtung für die Wohnung. Drei Jahre später, als Frédéric in seinem Heimatort Nogent-sur-Seine für kurze Zeit festsitzt, erhält er von Deslaurier einen Brief, in dem dieser mitteilt, dass sein Freund Senécal in die einst gemeinsame Wohnung gezogen sei. Frédéric fängt an zu zittern. Er fühlt „sich bis in die Tiefe seiner Seele verwundet“.
Die unglückliche Beziehung zu Madame Arnoux, seine zeitweilige komplette Hinwendung zur Familie – er wird ja zu einer Art Vertrauter der Arnoux’: Das alles trägt Züge einer bestimmten Strategie. Ein junger Mann verliebt sich im Paris des Bourbonenkönigs – dem Zentrum damaliger Libertinage - in eine Mutter von zwei Kindern. Seine Anhänglichkeit dauert lange an - ein ganzes Leben lang, findet nicht die geringste Erfüllung. Frédérics Scheitern mutet am Ende wie das desjenigen an, der keine allgemein gesellschaftlich akzeptierte Maske findet.
Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, verändert sich schließlich die Perspektive auf das Romangeschehen und ihre Protagonisten. Jacques Arnoux, der seine Frau dauernd hintergeht, ist nicht allein der Bürger im Gewand des notorischen Scheckbetrügers – er ist aus dem Blickwinkel des Autors die böse wie gefühllose Seite einer heterosexuell determinierten Welt. Und Rosanette ist nicht allein die Dirne mit dem unglücklichen Hintergrund leichter Mädchen aus dem dritten Stand, die wechselweise den Bürgern Arnoux und Moreau zu Diensten steht, sondern Frédérics öffentlicher Beweis, in der heterosexuellen Welt bestehen zu können. So versteht man die Wucht, die dieses Epos annimmt, mehr und mehr als Resultat eines Unbehagens eines Autors gegenüber der Welt und ihren Gesetzen.
„Leute, die meinen Roman gelesen haben“, schreibt Flaubert am 7. Dezember 1869 seiner guten Freundin George Sand, „trauen sich nicht, mit mir darüber zu sprechen, aus Angst, sich zu kompromittieren, oder aus Mitleid mit mir.“ Dass ein Junggeselle von fast fünfzig Jahren, der noch immer im Hause seiner Eltern wohnt, der mit einem skandalösen Roman über eine Ehebrecherin berühmt wurde, stets die Gefahr der scheelen Blicke wittert – wen wundert’s. Erstaunt deshalb, dass Flaubert die Homoerotik, die sich in unterschiedlichsten Färbungen durch sein ganzes Werk zieht, nicht offensiver thematisiert? Ist sein berühmter Ausspruch “Madame Bovary, das bin ich!“ nicht Geständnis genug?
Und haben die zahlreichen taktischen Facetten im Dienste der Leugnung, die in der „L’Éducation sentimentale“ und auch in „Bouvard und Pecuchet“ auftauchen, etwa mit dem Rechtsumstand zu tun, dass Schwulsein im 19. Jahrhundert eine strafbare Handlung ist? Oder ist Gustave Flaubert lediglich ein bürgerliches Mitglied jener kollektiven europäischen Heuchelei, die den Sex hinter Vorhängen verbirgt? Letzteres ist allerdings Produkt einer historischen Entwicklung. Den Vorwurf sexueller Heuchelei hätten selbst aufgeklärte Geister im 19. Jahrhundert nicht verstanden – er erstand erst im Zuge einer soziokulturellen Veränderung Mitte des 20. Jahrhunderts, die die alten Gesetze rund um die Sexualität für repressiv erklärt.
Der 1820 geborene Gustave Flaubert ist ganz Kind seiner Zeit, als das europäische Bürgertum die Jahrhunderte alte Vorherrschaft des Adels bricht – und eine neue Werteordnung erstellt. Darunter fällt auch der Sex, der sich nach oben wie unten ausdifferenziert. Das heißt, er verschließt sich vor den zweifelhaften Praktiken des Adels wie des Proletariats zugunsten einer Selbsthygiene im Namen der Gesundheit. Inzest, davor bedenkenlose breite Praxis, und der jahrhundertlange Brauch der Knabenliebe fallen unter dem bürgerlichen Index. Erst das 20.Jahrhunderte schafft jene Korrektur, die das Gestern mit der sexuellen Verdrängung und das Heute mit seiner Befreiung gleichsetzt.
So muss Flaubert es als selbstverständlich empfunden haben, die gleichgeschlechtliche Liebe zu verstecken – und gleichzeitig ihren Stachel allzeit gespürt haben. Dass er und sein Jugendfreund Maxime du Camp als reife Männer große Teile ihrer Korrespondenz im beiderseitigen Einvernehmen verbrennen, mag man als Scham gegenüber literarischen Jugendsünden werten. Um 1842 herum waren sie zwei junge Männer gewesen, die nach Ägypten reisten - in jenen homoerotisch aufgeladenen Orient, der hundert Jahre später homosexuelle Autoren wie beispielsweise den Amerikaner Paul Bowls anzieht. Die Erfahrung, ein Teil seines Begehrens dauernd als Verbot zu erfahren, muss für Flaubert schmerzliche Züge gehabt haben. Es spricht aus jeder Zeile der „L’Èducation sentimentale“ mit einer bestürzenden Schönheit.
So versteht man auch, warum Frédéric, ein fürchterlicher Tölpel, und sein Schöpfer, der begnadete Stilist, nicht so weit auseinander liegen. Im Werk gibt es gelegentlich immanente Überschneidungen. Als sich Frédéric von seiner „unseligen Leidenschaft“ zu Madame Arnoux wieder einmal abzulenken versucht, fängt er an, eine Geschichte der Renaissance zu schreiben. „Indem er sich in die Persönlichkeit der anderen vertiefte“, heißt es in der Übersetzung von Maria Dessauer, „vergaß er die eigene, was vielleicht das einzige Mittel ist, nicht unter ihr zu leiden.“ Das Kuriose an dem Satz ist, dass der akribische Arbeiter Flaubert sein Leben nichts anderes getan hat, als sich in die Biographien anderer zu versetzen. Kurios ist aber auch, dass „Die Erziehung des Herzens“ immer jene eine Lesart, die um den harten Realismus sich dreht, produziert.
Das ist ein Problem kanonisierter Texte, die man entlang von Leitfäden traditioneller Interpretationen liest. Dabei hat „L’Éducation sentimentale“ viele möglichen Lesarten. Zwei seien angeführt: Zu Beginn des Romans sehen wir den 19jährigen Frédéric bei einsamen Spaziergängen durch das pulsierende Paris. Ein Fremder aus der Provinz, der kaum Kontakt mit der metropolitanen Außenwelt knüpfen kann. Sein Weg führt ihn in die Schande eines ewigen Junggesellendaseins. Gerade darin sieht Franz Kafka etwas Ureigenes thematisch präfiguriert. Es entbehrt nicht ganz der Ironie, dass Kafka, der nie etwas von der Welt wollte, ein tragischer Meister der Negation und des Verzichts wurde – im Gegensatz zu Frédéric, der ein Stümper in der Welt des Verlangens und Begehrens bleibt.
Die andere Lesart ist vielleicht die schönste. 1986 erklärte Garcia Marquez in einem Interview, bevor er „Liebe in den Zeiten der Cholera“ angefangen habe zu schreiben, habe er „L’Éducation sentimentale“ noch mal gelesen. Der Kolumbianer meinte in etwa, das Beziehungsmodell bei Flaubert sei ihm zu kühl und distanziert vorgekommen. Er bezieht sich hauptsächlich auf die großartige Szene, als Madame Arnoux im Jahre 1867 Frédéric besuchen geht. Sie haben sich fast 20 Jahre nicht gesehen, plaudern über vergangene Tage, gehen spazieren. Die ganze Zeit bleibt die Angebetete verschleiert. In Frédérics Wohnung zurückgekehrt, nimmt sie ihre Kopfbedeckung ab, die Lampe beleuchtet ihr weißes Haar. „Es war wie ein Stoß in die Brust“, heißt es da. „Um seine Enttäuschung zu verbergen, kniete er vor ihr nieder, ergriff ihre Hände und begann zärtlich zu ihr zu reden.“
Eben diese Enttäuschung gibt es bei den Hauptfiguren in „Liebe in den Zeiten der Cholera“ nicht. Zum Ende des Romans sind beide alt, weißhaarig, faltig – und haben trotzdem die ganze Nacht Sex miteinander. Kühl ist jene Episode zwischen Madame Arnoux und Frédéric aber nicht, eher ergreifend. Ähnlich wie in „Madame Bovary“ verleiht Gustave Flaubert zum Schluss seinen mittelmäßigen Protagonisten eine tragische Größe. „Ihre Person“, so Frédéric zu Madame Arnoux, „Ihre geringsten Bewegungen schienen mir in der Welt von übermenschlicher Bedeutung zu sein. Mein Herz flog wie Staub hinter ihren Schritten auf.“ Es sei dahingestellt, ob das Hinknien und solche Worte etwas mit Würde zu tun haben - oder mehr auf Lüge basieren. Es ist jedenfalls Frédérics Abschied von seinen Illusionen.

Samstag, 24. Januar 2009

Chaim Noll: Der Kitharaspieler

Von Manuel Karasek
Sicherlich erinnert man sich an Peter Ustinovs exquisit überzogener Darstellung des verrückten Kaiser Neros im ansonsten kitschigen Sandalenfilm„Quo Vadis?“ aus dem Jahre 1951. Nero – das ist wohl der einzige römische Kaiser, der in der Postmoderne Karriere als eine Figur der Popkultur machte, als völlig untalentierter Sänger, Pyromane und Christenverfolger im kollektiven Bewusstsein blieb.
Und nun gibt es diesen Roman, der ausgerechnet in der neronischen Zeit spielt - und überdies noch achthundert Seiten lang ist. Chaim Nolls Buch „Der Kitharspieler“ wird wohl, bevor es überhaupt gelesen wird, mit der Skepsis zu kämpfen haben, die man gegenüber dem Genre des historischen Romans pflegt: Zu oft schmalzt und trieft es in den Kostümparaden. Hat man aber dann den „Kitharaspieler“ gelesen, ist man schier erfüllt von der Schönheit dieses hoch spannenden, ja kühnen Werkes – und weiß sich bei der Beschreibung des Lektüreerlebnisses nur noch mit Superlativen zu helfen. Das ist ein gespenstisch gutes Buch, geschrieben von einem deutschsprachigen Autor, der seit knapp zwanzig Jahren in Israel lebt.
Noll erzählt seine Geschichte aus der Perspektive eines namenlosen Ich-Erzählers, der als Kind einer Freigelassenen am Hofe Kaiser Claudius aufwächst und unter dessen Nachfolger Nero Karriere macht - als Berater für literarische Fragen. Das packende biographische Element an der Hauptfigur ist seine hebräische Herkunft, denn unter den Palastdächern streiten zwei Gruppen erbittert um politischen Einfluss. Auf der einen Seite sieht man die griechische Partei, denen Nero, der sich ja als Künstler betrachtet, nahe steht. Auf der anderen Seite gewahrt man die Judäer, deren monotheistischer Glaube bei den Römern eine Mischung aus Faszination und abgründigem Argwohn auslöst; besonders jene mysteriöse Sekte der „Christiani“.
Noll vermeidet von vornherein den Fehler, diese Vorgänge entlang der Gemeinplätze zu schildern, wie sie gerne Hollywoodfilme produzieren. Verkürzt lautet ja die Botschaft fast aller Filme, die sich mit der Zeit beschäftigen: Der Sieg des Christentums war aufgrund der römischen Dekadenz nicht aufzuhalten. Spannung erzeugt der Roman aber nicht, weil er dieser alten Frage nach der universellen Moral nachgeht, sondern weil er die komplexen Zusammenhänge jener Epoche zu einem dramatischen Plot zu bündeln versteht. Er hält den Augenblick fest, in dem man sich im Abendland für den Monotheismus zu interessieren begann - anhand des Konflikts drei sich widersprechender Weltbilder: dem römischen, griechischen und jüdischen.
So erhält allein die Figur des jugendlichen Kaisers im Romankontext einen explosiven Gehalt: Ein hoch talentierter junger Mann, mit einer schönen Stimme versehen, der aus selbst zerstörerischen Familienverhältnissen stammt (fast alle Mitglieder der julisch-claudischen Herrscherdynastie starben eines unnatürlichen Todes) - und dem ein monströs mächtiger Staatsapparat zur Verfügung steht, den er mit seinem zügellosen Hedonismus fast ruiniert. Flankiert wird diese Gestalt von der jüdischen Partei, die einen sich anbahnenden Bürgerkrieg in ihrem Heimatland zu verhindern versucht, der auch seine Wurzeln in einer religiösen Krise hat, aus der die Sekte des „Chrestos“ als immer erfolgreichere Glaubensalternative hervorgeht.
Dass die Hellenen eine so große Rolle im Poker um Einfluss am neronischen Hof spielen, verleiht der Geschichte dann erst den richtigen Kick – und das ist bewundernswert subtil von Noll, Jahrgang 1954, eingefangen. Denn die frühen Christen hebräischer Herkunft greifen bei dem Verkünden ihre Glaubens auf panhellenische Muster zurück: Der eigentlich unsichtbare, abstrakte Gott der Juden wird „sichtbar“, ja „greifbar“ durch die Figur von Gottes Sohns, der stets im Roman „Jeshua“ genannt wird. So erhält der jüdische Glaube ein „hellenisiertes“ Element – und wird in der römisch-griechisch geprägten Kultur des Mittelmeerraums auf unheimliche Weise erfolgreich. Das alles wären an sich bloß interessante theologische Fragen, die aber Noll geschickt in einem Plot einbettet, der in einen fürchterlichen Krieg mündet – und den er samt der Zerstörung des Tempels von Jerusalem durch die Truppen des späteren Kaiser Titus eindrucksvoll schildert.
Zusammengehalten werden diese kraftvollen achthundert Seiten zwar durch die Thematisierung eines der dramatischen kulturellen Paradigmenwechsel der Geschichte, jedoch ihr Schwung erhalten sie durch die Psychologie und den fundiert soziologisch-historischen Blick des Autors auf die Ära. Schon der erste Auftritt Neros als Kitharaspieler zeichnet Noll als differenziertes Bild eines Pop-Kaisers, der in einer vorwiegend feudalistisch geprägten Gesellschaft den Hunger nach einer sich manifestierenden Jugendkultur samt ihren hysterischen Auswüchsen befriedigt. Statt das alte, laue Lied von der Dekadenz der römischen Gesellschaft zu wiederholen und Nero als krähenden Hahn zu zeichnen, schlägt seine Darstellung mühelos den Bogen zu unserer Popkultur – ohne dass Noll den historischen Boden der Wahrscheinlichkeit dafür verlassen müsste.
Und was beispielsweise Jonathan Littell in „Die Wohlgesinnten“ nie schaffte – uns einen wahrhaft bösen Menschen zu zeigen, das gelingt Noll mit der Figur des Kaisers, dessen Abgründigkeit ein Resultat des intriganten Hofsystems ist, das alle seine Teilnehmer in Lebensgefahr bringt. Das alles erzählt er aus der Perspektive eines hebräischen, jungen Intellektuellen, der aus dem Rückblick heraus Zeugnis ablegt – seine persönliche Geschichte erzählt, wie er heiratet, Familie gründet, ein immer wichtigeres Mitglied der jüdischen Gemeinde in Rom wird; und einen genauen Rechenschaftsbericht über seine Zeit als Hofbeamter abgibt, der allmählich die Gunst des Kaisers verliert, um sein Leben und das seiner Familie bangen muss - und letztendlich zum politischen Flüchtling wird. Das ist die Rahmenhandlung, mit der Noll in klaren Bildern die Antike heranholt; und die seine ungeheure Gabe zur Plastizität verraten.
Aber der große Clou dieses Romans ist seine Unvorsehbarkeit; und das ist bei einem historischen Roman besonders bemerkenswert. Mit einer genialen Wendung schiebt er die Handlung ins Unerwartete, lässt Kaiser Nero auf Seite 500 sterben, wo sich der Leser fragt: Und nun? Und was dann auf dreihundert Seiten folgt, ist deshalb so beglückend, weil man hier sieht, wie ein groß angelegtes und gewagtes Romankonzept wundervoll gelingt. Dass liegt nicht nur allein daran, dass der Roman weit in die Zeit der flavischen Kaiser hineinreicht und die Handlung in einer dramatischen Gerichtsszene mündet, wo der Ich-Erzähler sich als ehemaliger Hofbeamter Neros rechtfertigen muss.
Was den Leser so beglückt, ist, dass es Noll gelingt, die komplexen Zusammenhänge, die er in seinem Roman behandelt (und die in unsere Kultur tief hineingreifen), in die Dramen seiner Protagonisten aufzulösen versteht, was besonders sichtbar wird in dem großen Schlussdialog zwischen dem todkranken Kaiser Titus und dem Ich-Erzähler – ergo zwischen dem Zerstörer Jerusalems und einem jüdischen Schriftgelehrten, der ein für Nero berühmtes Poem verfasst hat, das „Der Kitharaspieler“ heißt. Dieser Gänsehaut erzeugende Disput zwischen beiden mutet dann schon fast wie eine Apotheose an - auch weil man durch die Seiten davor längst überzeugt wurde, es bei Chaim Noll mit einem großen Romancier zu tun zu haben.

Chaim Noll: Der Kitharaspieler. 815 Seiten. Verbrecher Verlag. 34 Euro