Samstag, 24. Januar 2009

Chaim Noll: Der Kitharaspieler

Von Manuel Karasek
Sicherlich erinnert man sich an Peter Ustinovs exquisit überzogener Darstellung des verrückten Kaiser Neros im ansonsten kitschigen Sandalenfilm„Quo Vadis?“ aus dem Jahre 1951. Nero – das ist wohl der einzige römische Kaiser, der in der Postmoderne Karriere als eine Figur der Popkultur machte, als völlig untalentierter Sänger, Pyromane und Christenverfolger im kollektiven Bewusstsein blieb.
Und nun gibt es diesen Roman, der ausgerechnet in der neronischen Zeit spielt - und überdies noch achthundert Seiten lang ist. Chaim Nolls Buch „Der Kitharspieler“ wird wohl, bevor es überhaupt gelesen wird, mit der Skepsis zu kämpfen haben, die man gegenüber dem Genre des historischen Romans pflegt: Zu oft schmalzt und trieft es in den Kostümparaden. Hat man aber dann den „Kitharaspieler“ gelesen, ist man schier erfüllt von der Schönheit dieses hoch spannenden, ja kühnen Werkes – und weiß sich bei der Beschreibung des Lektüreerlebnisses nur noch mit Superlativen zu helfen. Das ist ein gespenstisch gutes Buch, geschrieben von einem deutschsprachigen Autor, der seit knapp zwanzig Jahren in Israel lebt.
Noll erzählt seine Geschichte aus der Perspektive eines namenlosen Ich-Erzählers, der als Kind einer Freigelassenen am Hofe Kaiser Claudius aufwächst und unter dessen Nachfolger Nero Karriere macht - als Berater für literarische Fragen. Das packende biographische Element an der Hauptfigur ist seine hebräische Herkunft, denn unter den Palastdächern streiten zwei Gruppen erbittert um politischen Einfluss. Auf der einen Seite sieht man die griechische Partei, denen Nero, der sich ja als Künstler betrachtet, nahe steht. Auf der anderen Seite gewahrt man die Judäer, deren monotheistischer Glaube bei den Römern eine Mischung aus Faszination und abgründigem Argwohn auslöst; besonders jene mysteriöse Sekte der „Christiani“.
Noll vermeidet von vornherein den Fehler, diese Vorgänge entlang der Gemeinplätze zu schildern, wie sie gerne Hollywoodfilme produzieren. Verkürzt lautet ja die Botschaft fast aller Filme, die sich mit der Zeit beschäftigen: Der Sieg des Christentums war aufgrund der römischen Dekadenz nicht aufzuhalten. Spannung erzeugt der Roman aber nicht, weil er dieser alten Frage nach der universellen Moral nachgeht, sondern weil er die komplexen Zusammenhänge jener Epoche zu einem dramatischen Plot zu bündeln versteht. Er hält den Augenblick fest, in dem man sich im Abendland für den Monotheismus zu interessieren begann - anhand des Konflikts drei sich widersprechender Weltbilder: dem römischen, griechischen und jüdischen.
So erhält allein die Figur des jugendlichen Kaisers im Romankontext einen explosiven Gehalt: Ein hoch talentierter junger Mann, mit einer schönen Stimme versehen, der aus selbst zerstörerischen Familienverhältnissen stammt (fast alle Mitglieder der julisch-claudischen Herrscherdynastie starben eines unnatürlichen Todes) - und dem ein monströs mächtiger Staatsapparat zur Verfügung steht, den er mit seinem zügellosen Hedonismus fast ruiniert. Flankiert wird diese Gestalt von der jüdischen Partei, die einen sich anbahnenden Bürgerkrieg in ihrem Heimatland zu verhindern versucht, der auch seine Wurzeln in einer religiösen Krise hat, aus der die Sekte des „Chrestos“ als immer erfolgreichere Glaubensalternative hervorgeht.
Dass die Hellenen eine so große Rolle im Poker um Einfluss am neronischen Hof spielen, verleiht der Geschichte dann erst den richtigen Kick – und das ist bewundernswert subtil von Noll, Jahrgang 1954, eingefangen. Denn die frühen Christen hebräischer Herkunft greifen bei dem Verkünden ihre Glaubens auf panhellenische Muster zurück: Der eigentlich unsichtbare, abstrakte Gott der Juden wird „sichtbar“, ja „greifbar“ durch die Figur von Gottes Sohns, der stets im Roman „Jeshua“ genannt wird. So erhält der jüdische Glaube ein „hellenisiertes“ Element – und wird in der römisch-griechisch geprägten Kultur des Mittelmeerraums auf unheimliche Weise erfolgreich. Das alles wären an sich bloß interessante theologische Fragen, die aber Noll geschickt in einem Plot einbettet, der in einen fürchterlichen Krieg mündet – und den er samt der Zerstörung des Tempels von Jerusalem durch die Truppen des späteren Kaiser Titus eindrucksvoll schildert.
Zusammengehalten werden diese kraftvollen achthundert Seiten zwar durch die Thematisierung eines der dramatischen kulturellen Paradigmenwechsel der Geschichte, jedoch ihr Schwung erhalten sie durch die Psychologie und den fundiert soziologisch-historischen Blick des Autors auf die Ära. Schon der erste Auftritt Neros als Kitharaspieler zeichnet Noll als differenziertes Bild eines Pop-Kaisers, der in einer vorwiegend feudalistisch geprägten Gesellschaft den Hunger nach einer sich manifestierenden Jugendkultur samt ihren hysterischen Auswüchsen befriedigt. Statt das alte, laue Lied von der Dekadenz der römischen Gesellschaft zu wiederholen und Nero als krähenden Hahn zu zeichnen, schlägt seine Darstellung mühelos den Bogen zu unserer Popkultur – ohne dass Noll den historischen Boden der Wahrscheinlichkeit dafür verlassen müsste.
Und was beispielsweise Jonathan Littell in „Die Wohlgesinnten“ nie schaffte – uns einen wahrhaft bösen Menschen zu zeigen, das gelingt Noll mit der Figur des Kaisers, dessen Abgründigkeit ein Resultat des intriganten Hofsystems ist, das alle seine Teilnehmer in Lebensgefahr bringt. Das alles erzählt er aus der Perspektive eines hebräischen, jungen Intellektuellen, der aus dem Rückblick heraus Zeugnis ablegt – seine persönliche Geschichte erzählt, wie er heiratet, Familie gründet, ein immer wichtigeres Mitglied der jüdischen Gemeinde in Rom wird; und einen genauen Rechenschaftsbericht über seine Zeit als Hofbeamter abgibt, der allmählich die Gunst des Kaisers verliert, um sein Leben und das seiner Familie bangen muss - und letztendlich zum politischen Flüchtling wird. Das ist die Rahmenhandlung, mit der Noll in klaren Bildern die Antike heranholt; und die seine ungeheure Gabe zur Plastizität verraten.
Aber der große Clou dieses Romans ist seine Unvorsehbarkeit; und das ist bei einem historischen Roman besonders bemerkenswert. Mit einer genialen Wendung schiebt er die Handlung ins Unerwartete, lässt Kaiser Nero auf Seite 500 sterben, wo sich der Leser fragt: Und nun? Und was dann auf dreihundert Seiten folgt, ist deshalb so beglückend, weil man hier sieht, wie ein groß angelegtes und gewagtes Romankonzept wundervoll gelingt. Dass liegt nicht nur allein daran, dass der Roman weit in die Zeit der flavischen Kaiser hineinreicht und die Handlung in einer dramatischen Gerichtsszene mündet, wo der Ich-Erzähler sich als ehemaliger Hofbeamter Neros rechtfertigen muss.
Was den Leser so beglückt, ist, dass es Noll gelingt, die komplexen Zusammenhänge, die er in seinem Roman behandelt (und die in unsere Kultur tief hineingreifen), in die Dramen seiner Protagonisten aufzulösen versteht, was besonders sichtbar wird in dem großen Schlussdialog zwischen dem todkranken Kaiser Titus und dem Ich-Erzähler – ergo zwischen dem Zerstörer Jerusalems und einem jüdischen Schriftgelehrten, der ein für Nero berühmtes Poem verfasst hat, das „Der Kitharaspieler“ heißt. Dieser Gänsehaut erzeugende Disput zwischen beiden mutet dann schon fast wie eine Apotheose an - auch weil man durch die Seiten davor längst überzeugt wurde, es bei Chaim Noll mit einem großen Romancier zu tun zu haben.

Chaim Noll: Der Kitharaspieler. 815 Seiten. Verbrecher Verlag. 34 Euro

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