Montag, 26. Januar 2009

Stendhal: Die Kartause von Parma

Von Manuel Karasek

In dem berühmten, neu übersetzten Roman „Die Kartause von Parma“ von Stendhal verfolgt man etwa in der Mitte des Buches, wie sich zwei junge Leute, obwohl sie sich kaum kennen, mächtig ineinander verlieben. Daran mag nichts Besonderes sein. Jedoch ist die Situation, in der sie sich begegnen, der Fixpunkt, an dem sich alle Kräfte des Romans sammeln. Ein Gefängnis ist gerade der Ort der romantischen Begegnung. Bei der einen Figur handelt es sich um den adligen Helden Fabrizio del Dongo - eine durchgehend draufgängerische Natur, die wegen eines angeblichen Mordes im wuchtigen Turmverlies von Parma sitzt. Der andere junge Mensch ist eine blonde Provinzschönheit, Clelia Conti mit Namen, die gegenüber vom Turm auf dem Dach eines Nebengebäudes ihre große Sammlung von Ziervögeln pflegt.
Die beiden jungen Menschen können einander nur aus der Entfernung sehen, werden auch getrennt von den Wachen. Der jeweilige Fensterausschnitt ist im Grunde alles, was Ihnen zu Gebote steht. Sie haben sich im Laufe der abenteuerlichen, ja fast überschlagenden Handlung, die Stendhal im April 1839 in Paris in zwei Bänden veröffentlicht, zwar zweimal gesehen, aber dabei nicht ein einziges Wort gewechselt.
Das holen sie nun auf eine besondere Weise nach. Auf großen Zetteln schreiben sie die einzelnen Buchstaben des Alphabets. Nächte lang kommunizieren sie so – voller Leidenschaft und Inbrunst. Es stört auch nicht, dass die ziemlich langwierige Mitteilungstechnik sich mehr für SMS-kurze Botschaften eignet. Stendhal lässt Fabrizio und Clelia Dialoge führen, die wie Senatorenreden oder Opernarien anmuten. Es beschleicht einem eine gewisse Unruhe während der Lektüre: Eine ziemlich ambivalente Szene, meint man; und nicht unbedingt der italienischen Realität um 1825 abgeschaut. Aber man täuscht sich zum Teil.
Was Stendhal, der in Italien lange Zeit als französischer Konsul lebte, in seinem 650seitigen grandiosen und von Elisabth Edl wundervoll übersetzten Roman einfing, war vor allem der italienische Geist. Dieser, wie er sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts präsentierte, ist von Stendhal derart kunstvoll erfasst, dass man glaubt, während des Lesens danach greifen zu können. Denn die Gefängnisepisode mit der deutlichen Note an Melodramatik erinnert durchaus an Opernszenen, ist aber auch deutlicher Hinweis auf eine politische Realität des damaligen Norditalien.
Stendhal vermischt in seinem letzten Roman, der sein einzig großer Bucherfolg zu Lebzeiten wurde, geschickt zwei Elemente und erreicht damit unglaubliche Effekte. Zum einen benutzt er alte italienische Novellen aus der Renaissance als Model für seine wechselvolle Geschichte, die dadurch teilweise den Charakter eines Mantel-und-Degen-Romans erhält. Zum anderen orientiert er sich an der Wirklichkeit der absolutistischen Kleinstaaten in Norditalien, die allesamt Produkte der Restauration nach 1815 waren – und wo Liberale schon mal für Jahrzehnte in die dunklen Verliese der von Österreich protegierten Fürsten landeten. So schwankt Stendhals Roman ständig zwischen ziemlich unwahrscheinlichen Gegebenheiten und einer genauen Erfassung realistischer Vorgänge, ist gleichzeitig düsteres Märchen und faszinierende Beschreibung der Korruption an italienischen Provinzhöfen. Balzac, der große Kollege, fand letzteres derart beunruhigend, dass er Stendhal bat, die Stadt Parma im Titel nicht zu nennen.
Der wesentlich jüngere Balzac, der die ‚Kartause’ enthusiastisch gefeiert hatte, hatte gute Gründe dafür. Nicht unweit von Parma, in Modena, herrschte einer jener Kleinstaatdespoten, die dem fiktivem Ernesto IV. so ähnelten. Man konnte durch die ‚Kartause’ schon politische Verwicklungen fürchten. Einerseits zeichnet Stendhal, der mit bürgerlichen Namen Henri Beyle hieß, seinen Fürsten als Karikatur eines Herrschers. Andererseits zeigt er mit Ernesto IV. einen typischen Vertreter der Restauration, einen reaktionären Mann, dem die Seele brennt, die Geschichtsuhr mit aller Gewalt zurückzudrehen. Das politische Spannungsfeld der sich widersprechenden politischen Ansichten zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist schließlich der thematische Schwerpunkt des Romans. Er zeigt sich als Riss durch die Generationen und gibt Stendhals Geschichte seine unwiderstehliche Dynamik – die schließlich in der Gefängnisszene kulminiert.
Denn Stendhals Held, Fabrizio del Dongo, empfindet zu Beginn der Handlung sein väterliches Umfeld in Mailand als verstaubt – und nimmt die erste Gelegenheit wahr, sich in der napoleonischen Armee auszuzeichnen. Der Roman ist ja weltberühmt für die Passagen, in denen geschildert wird, wie der 17jährige del Dongo an der Schlacht in Waterloo teilnimmt. Wie Stendhal die Realität eines sinnlosen Gemetzels einfängt, es durch den naiven Blick seines Protagonisten konterkariert, dessen Handlungsweise übrigens an Parzival gemahnt – und dabei stets den einzigartig funkelnden ironischen Erzählton hält: Das ist staunenswert und verliert nie an Frische. Dieser Erzählmodus hat aber auch über die berühmte Kriegsszene hinaus etwas Bezirzendes.
Während nämlich der jugendliche Draufgänger Fabrizio im spätnapoleonischen Frankreich herumirrt, gelingt es seiner Tante, die Herzogin Piacenza, am Hof von Parma Fuß zu fassen und sich mit dem Minister, Graf Mosca, zu verbünden. Beide schmieden für Fabrizio, der wegen seines Eifers für den französischen Kaiser vom Vater verstoßen wurde, eine Karriere als Bischof – was grotesk bei einer Figur anmutet, welche die Finger von den Frauen nicht lassen kann. Letzteres bringt Fabrizio schließlich auch ins Gefängnis, weil er im Streit um eine Schauspielerin den Liebhaber versehentlich tödlich verletzt. Das ist streng genommen, so verdeutlich das Stendhal immer wieder auf subtile Weise, eine Lappalie, für die ein Adliger nicht wirklich belangt werden kann.
Stendhal macht aber aus diesem Fall eine sensationelle Parodie der politischen Verhältnisse des damaligen Italiens, gestaltet ihn zu einem Provinzskandal, der das Fürstentum Parma in seinen Grundfesten erschüttert. Zwei Parteien streiten nämlich um die Gunst Enrico IV. Auf der einen Seiten Graf Mosca und die Herzogin, auf der anderen die Gräfin Ranieri mit ihren Dunkelmännern Rassi und Conti, wobei letztere hohe Tiere des Polizeiapparates von Parma sind. Fabrizio ist ohne sein Wissen lediglich Spielball beider Mächte. Deswegen entbehrt es nicht der Ironie, dass sich Fabrizio in die schöne Tochter von Gefängnisdirektor Fabio Conti verguckt – und damit die Pläne beider Parteien unfreiwillig unterwandert. Mehr Oper konnte Stendhal, der die Musik von Rossini und Cimarosa liebte, in seinen Stoff wohl nicht einbauen. Es ist schon großartig, wenn in der ‚Kartause’ geliebt wird: Fehlt eigentlich nur noch das Orchester.
Natürlich führt diese Sprache, sobald sie Begierde und Verlangen thematisiert, durch ihre Nähe zur Form eines Librettos zu bizarren Ergebnissen: Die Herzogin ist schwer verliebt in ihren Neffen Fabrizio, Graf Mosca liebt dieselbe, Enricio IV. liebt ebenfalls die Piacenza, fühlt sich aber von ihr zurückgewiesen und lässt deswegen kurzerhand Fabrizio verhaften. Clelia liebt eigentlich Fabrizio, will aber ihrem Vater die Karriere nicht versauen, heiratet statt Fabrizio einen anderen – und so geht das in einem fort. Die Kartause ist teilweise eine großartige Soap des 19. Jahrhunderts und gehört zusammen mit den Romanen Balzacs zu den bedeutendsten Werken der Literatur, die in Frankreich zwischen 1830 und 1840 erschienen. Gemeinsam ist ihnen vor allem, dass sie äußerst kunstvoll Kolportageelemente in ihren Romanen integrieren.
Gerade dem Schwung, der von diesen ‚Trivialmustern’ ausgeht, kommt die Übersetzung entgegen. Manche Umständlichkeiten alter Übertragungen sind nun weg und auch die Dialoge wirken jetzt pointierter. Die Gefängnisszene ist übrigens auch ein Spiegelkabinett der Pathologien der Figuren von Stendhal. Dass sich Fabrizio erst in der Gefangenschaft ernsthaft verliebt, weckt den Freudianer in einem. Offenbar macht manch eine Liebe nicht frei. Und so eine Kerkerhaft ist ja auch etwas Feines – nicht?

Stendhal: Die Kartause von Parma. Roman. Neu übersetzt von Elisabeth Edl. Carl Hanser Verlag, München, 2007. 998 Seiten. 34,90 Euro

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen