Von Manuel Karasek
Als Gustave Flauberts Roman „L’Éducation sentimentale“ im November 1869 erscheint, reagiert die französische Kritik überwiegend mit Verrissen. Hauptsächlich wirft man dem Autor vor, dass im Mittelpunkt seines Epos, das größtenteils in den Jahren 1840 bis 1851 spielt, ein durchschnittlicher Charakter steht, ein Held, der jedwede Form heldenhafter Attribute vermissen lässt. Das verwundert die Kritik deshalb so stark, weil die 600seitige Handlung mit der Darstellung der Revolution von 1848 ihre Zuspitzung erfährt, das Ende der Regentschaft des „Roi Citoyen“ Louis Philippe I. dramatischer Wendepunkt in den Biographien von Flauberts Figuren ist. Geradezu befremdlich muss einem Teil der Pariser Rezeption, die mehr oder minder in jene historischen Ereignisse involviert war, die überwiegend talentlose Hauptfigur vorkommen. Gab es 1848 etwa keine großen Männer?
Tatsächlich ist Frédéric Moreau ein unsäglicher Langweiler, talentlos bis in die Knochen. Durchaus hat der Held aber jene tragischen Züge, wie man sie beispielsweise aus den Romanen Balzacs kennt: Der Hang zum süßen Leben in den oberen Etagen, die unglückliche lebenslange Liebe zu einer Frau. Diese Mischung aus Opportunismus und theatralischer Romantik bleibt nicht unbemerkt. Eigentlich entspricht die Geschichte, die nahezu minuziös einen gesellschaftlichen Sturz nachzeichnet, der Vorstellung von fiktionalen Modellen der damaligen Zeit. Auch in „Lehrjahre des Gefühls“ prallen individuelle Hybris und die urbanen Mechanismen von Karriere und Macht aufeinander. Doch man kommt nicht überein. Die brutale Polemik Barbey d’Aurevillys – des Chefkritikers vom „Le Constitutionnel“ -, der Flauberts Buch als „Verpestung“ brandmarkt, ist da sicherlich die hysterischste Reaktion einer fast mehrheitlichen Ablehnung.
Der Roman bleibt zunächst unverstanden, weil man der Zeit gemäß davon ausgeht, dass Männer Geschichte gestalten – und nicht umgekehrt. Und entsprechend hat auch das Interieur eines Romans auszusehen. Das Konzept Flauberts wird aber gerade von der Idee getragen, dass nicht der Einzelne die Verhältnisse bestimmt, sondern die Summe aus sich widersprechenden Handlungen. Das ist für 1869 neu - dieser soziale Blick, der die distanzierte Beschreibung des Scheiterns bürgerlicher Bestrebungen prägt. Eine gewisse analytische wie amüsierte Kühle umgibt die Deskriptionen, die sich um die Lächerlichkeit des Versagens drehen. Frédéric ist ein unentschlossener Charakter, der einmal deutsche Walzer komponieren, später eine Geschichte der Renaissance schreiben möchte – und beides nicht abschließt.
Eine Episode zeigt dagegen eindrucksvoll, wie hintergründig Flaubert einzelne Handlungsstränge gegeneinander laufen lässt. In Zentrum der Geschichte steht die Liebe Frédérics zu Madame Arnoux, einer verheirateten Frau mit zwei Kindern. Mitten in den Revolutionswirren mietet der 26jährige junge Mann eine Wohnung, um endlich mit der Angebeteten allein zu sein. Doch Frédéric wartet an jenem Tag vergeblich, denn was er nicht weiß, ist, dass Marie Arnoux’ kleiner Sohn schwer erkrankt ist. Die gläubige Katholikin meint darin eine Strafe für ihre ehebrecherische Liebe zu sehen – und schwört ihrer Neigung ab. Gerade solche Sequenzen begeistern wiederum George Sand und Émile Zola. Sie verteidigen den Roman gegen die massiv negative Kritik mit einer Vehemenz, die die Rückseite der polemischen Debatte bildet.
Der Roman sei „so vielfältig wie die lebendige Realität“, schreibt etwa George Sand. „Dieses zu wahre Buch“, ergänzt Émile Zola. Kein Roman – so stimmen beide überein - erreicht also eine so beängstigende Nähe zur Wirklichkeit wie „L’Éducation sentimentale“. Doch um diese Realität geht es nicht. Vielmehr dreht sich der Diskurs um Weltbilder und Werteordnungen. Die im Roman beschriebene Gesellschaftsordnung der 1840er Jahre, so umreißt es George Sand im Dezember 1869 nämlich, beweise, dass diese „in die Phase ihrer Auflösung“ eingetreten sei. Und Zola schreibt zehn Jahre später: „Hier bin ich in meiner Erbärmlichkeit erfasst.“ Was beide gemein haben - obwohl die eine politisch, der andere anthropozentrisch argumentiert, ist ihre Überzeugung, dass der Mensch schlecht sei; und Gustave Flaubert ist der Apologet dieser unumstößlichen Wahrheit. Gerade aber diese Deutung ist höchst problematisch.
Von einer genauen Wiedergabe der Realität als Merkmal kann nur eingeschränkt die Rede sein. Man schaue sich die psychischen Grundrisse der Freunde von Frédéric einmal genauer an: Deslaurier ist ein verbitterter Anwalt, der sich fortwährend in unmögliche Projekte verbeißt. Hussonnet scheitert als Autor von Boulevardstücken, um schließlich als windiger Zeitschriftenverleger zu agieren. Pellerin ist ein schauerlich mittelmäßiger Maler, Senécal ein politischer Opportunist und Hetzer; und Jacques Arnoux ist als Kunsthändler und Unternehmer ein Scharlatan – immer nahe am kriminellen Deal. Ist etwa so die Realität?
Flaubert hat bei der exakten Ausarbeitung des Stoffes seine Figuren fast bis ans Groteske überzeichnet. So funktioniert dann die Gegensätzlichkeit im Roman: Man verfolgt eigentlich langweilige Gestalten bei ihren dubiosen Geschäften – gerade aber das ist spannend zu verfolgen. Der Realismus des Werkes mag die Zeitgenossen entweder abgestoßen oder fasziniert haben. Der soziale Blick des Autors ist wahrlich kühn: Wo Balzac seine Figuren im hegelschen Sinne mit dem „Weltgeist“ ausstattet, treten bei Flaubert die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse stärker hervor: Bürgersöhne als Snobs, Pseudoadlige, Salonrevolutionäre; Arbeiter und Frauen aus dem dritten Stand mit ihren bitteren politischen Träumen; das steinreiche Unternehmerehepaar Dambreuse, die krummen Geschäfte von Hussonnet und Arnoux; Kunst, Literatur, Geld, Liebe, Politik. Kurz: Seelen, die im Wandel der Zeiten die Orientierung verlieren. Die Romankonstruktion besticht durch eine atemberaubende Fülle sich ergänzender Details, die sich dauernd motivisch verwandeln.
Und doch speist „L’Éducation sentimentale“ ihre Kraft nicht ausschließlich aus den beschriebenen gesellschaftlichen Gegebenheiten. Da ist eine Verzweiflung und Wut zu spüren, die mit Flauberts Befindlichkeit selbst zu tun hat. Man schaue sich mal genau an, wie die Beziehungen zwischen Frédéric und seinen Freunden beschrieben werden. Er und Deslaurier ziehen eine Zeitlang zusammen – und benehmen sich wie ein junges Ehepaar, schauen sich immer wieder verliebt in die Augen und kaufen gemeinsam die Einrichtung für die Wohnung. Drei Jahre später, als Frédéric in seinem Heimatort Nogent-sur-Seine für kurze Zeit festsitzt, erhält er von Deslaurier einen Brief, in dem dieser mitteilt, dass sein Freund Senécal in die einst gemeinsame Wohnung gezogen sei. Frédéric fängt an zu zittern. Er fühlt „sich bis in die Tiefe seiner Seele verwundet“.
Die unglückliche Beziehung zu Madame Arnoux, seine zeitweilige komplette Hinwendung zur Familie – er wird ja zu einer Art Vertrauter der Arnoux’: Das alles trägt Züge einer bestimmten Strategie. Ein junger Mann verliebt sich im Paris des Bourbonenkönigs – dem Zentrum damaliger Libertinage - in eine Mutter von zwei Kindern. Seine Anhänglichkeit dauert lange an - ein ganzes Leben lang, findet nicht die geringste Erfüllung. Frédérics Scheitern mutet am Ende wie das desjenigen an, der keine allgemein gesellschaftlich akzeptierte Maske findet.
Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, verändert sich schließlich die Perspektive auf das Romangeschehen und ihre Protagonisten. Jacques Arnoux, der seine Frau dauernd hintergeht, ist nicht allein der Bürger im Gewand des notorischen Scheckbetrügers – er ist aus dem Blickwinkel des Autors die böse wie gefühllose Seite einer heterosexuell determinierten Welt. Und Rosanette ist nicht allein die Dirne mit dem unglücklichen Hintergrund leichter Mädchen aus dem dritten Stand, die wechselweise den Bürgern Arnoux und Moreau zu Diensten steht, sondern Frédérics öffentlicher Beweis, in der heterosexuellen Welt bestehen zu können. So versteht man die Wucht, die dieses Epos annimmt, mehr und mehr als Resultat eines Unbehagens eines Autors gegenüber der Welt und ihren Gesetzen.
„Leute, die meinen Roman gelesen haben“, schreibt Flaubert am 7. Dezember 1869 seiner guten Freundin George Sand, „trauen sich nicht, mit mir darüber zu sprechen, aus Angst, sich zu kompromittieren, oder aus Mitleid mit mir.“ Dass ein Junggeselle von fast fünfzig Jahren, der noch immer im Hause seiner Eltern wohnt, der mit einem skandalösen Roman über eine Ehebrecherin berühmt wurde, stets die Gefahr der scheelen Blicke wittert – wen wundert’s. Erstaunt deshalb, dass Flaubert die Homoerotik, die sich in unterschiedlichsten Färbungen durch sein ganzes Werk zieht, nicht offensiver thematisiert? Ist sein berühmter Ausspruch “Madame Bovary, das bin ich!“ nicht Geständnis genug?
Und haben die zahlreichen taktischen Facetten im Dienste der Leugnung, die in der „L’Éducation sentimentale“ und auch in „Bouvard und Pecuchet“ auftauchen, etwa mit dem Rechtsumstand zu tun, dass Schwulsein im 19. Jahrhundert eine strafbare Handlung ist? Oder ist Gustave Flaubert lediglich ein bürgerliches Mitglied jener kollektiven europäischen Heuchelei, die den Sex hinter Vorhängen verbirgt? Letzteres ist allerdings Produkt einer historischen Entwicklung. Den Vorwurf sexueller Heuchelei hätten selbst aufgeklärte Geister im 19. Jahrhundert nicht verstanden – er erstand erst im Zuge einer soziokulturellen Veränderung Mitte des 20. Jahrhunderts, die die alten Gesetze rund um die Sexualität für repressiv erklärt.
Der 1820 geborene Gustave Flaubert ist ganz Kind seiner Zeit, als das europäische Bürgertum die Jahrhunderte alte Vorherrschaft des Adels bricht – und eine neue Werteordnung erstellt. Darunter fällt auch der Sex, der sich nach oben wie unten ausdifferenziert. Das heißt, er verschließt sich vor den zweifelhaften Praktiken des Adels wie des Proletariats zugunsten einer Selbsthygiene im Namen der Gesundheit. Inzest, davor bedenkenlose breite Praxis, und der jahrhundertlange Brauch der Knabenliebe fallen unter dem bürgerlichen Index. Erst das 20.Jahrhunderte schafft jene Korrektur, die das Gestern mit der sexuellen Verdrängung und das Heute mit seiner Befreiung gleichsetzt.
So muss Flaubert es als selbstverständlich empfunden haben, die gleichgeschlechtliche Liebe zu verstecken – und gleichzeitig ihren Stachel allzeit gespürt haben. Dass er und sein Jugendfreund Maxime du Camp als reife Männer große Teile ihrer Korrespondenz im beiderseitigen Einvernehmen verbrennen, mag man als Scham gegenüber literarischen Jugendsünden werten. Um 1842 herum waren sie zwei junge Männer gewesen, die nach Ägypten reisten - in jenen homoerotisch aufgeladenen Orient, der hundert Jahre später homosexuelle Autoren wie beispielsweise den Amerikaner Paul Bowls anzieht. Die Erfahrung, ein Teil seines Begehrens dauernd als Verbot zu erfahren, muss für Flaubert schmerzliche Züge gehabt haben. Es spricht aus jeder Zeile der „L’Èducation sentimentale“ mit einer bestürzenden Schönheit.
So versteht man auch, warum Frédéric, ein fürchterlicher Tölpel, und sein Schöpfer, der begnadete Stilist, nicht so weit auseinander liegen. Im Werk gibt es gelegentlich immanente Überschneidungen. Als sich Frédéric von seiner „unseligen Leidenschaft“ zu Madame Arnoux wieder einmal abzulenken versucht, fängt er an, eine Geschichte der Renaissance zu schreiben. „Indem er sich in die Persönlichkeit der anderen vertiefte“, heißt es in der Übersetzung von Maria Dessauer, „vergaß er die eigene, was vielleicht das einzige Mittel ist, nicht unter ihr zu leiden.“ Das Kuriose an dem Satz ist, dass der akribische Arbeiter Flaubert sein Leben nichts anderes getan hat, als sich in die Biographien anderer zu versetzen. Kurios ist aber auch, dass „Die Erziehung des Herzens“ immer jene eine Lesart, die um den harten Realismus sich dreht, produziert.
Das ist ein Problem kanonisierter Texte, die man entlang von Leitfäden traditioneller Interpretationen liest. Dabei hat „L’Éducation sentimentale“ viele möglichen Lesarten. Zwei seien angeführt: Zu Beginn des Romans sehen wir den 19jährigen Frédéric bei einsamen Spaziergängen durch das pulsierende Paris. Ein Fremder aus der Provinz, der kaum Kontakt mit der metropolitanen Außenwelt knüpfen kann. Sein Weg führt ihn in die Schande eines ewigen Junggesellendaseins. Gerade darin sieht Franz Kafka etwas Ureigenes thematisch präfiguriert. Es entbehrt nicht ganz der Ironie, dass Kafka, der nie etwas von der Welt wollte, ein tragischer Meister der Negation und des Verzichts wurde – im Gegensatz zu Frédéric, der ein Stümper in der Welt des Verlangens und Begehrens bleibt.
Die andere Lesart ist vielleicht die schönste. 1986 erklärte Garcia Marquez in einem Interview, bevor er „Liebe in den Zeiten der Cholera“ angefangen habe zu schreiben, habe er „L’Éducation sentimentale“ noch mal gelesen. Der Kolumbianer meinte in etwa, das Beziehungsmodell bei Flaubert sei ihm zu kühl und distanziert vorgekommen. Er bezieht sich hauptsächlich auf die großartige Szene, als Madame Arnoux im Jahre 1867 Frédéric besuchen geht. Sie haben sich fast 20 Jahre nicht gesehen, plaudern über vergangene Tage, gehen spazieren. Die ganze Zeit bleibt die Angebetete verschleiert. In Frédérics Wohnung zurückgekehrt, nimmt sie ihre Kopfbedeckung ab, die Lampe beleuchtet ihr weißes Haar. „Es war wie ein Stoß in die Brust“, heißt es da. „Um seine Enttäuschung zu verbergen, kniete er vor ihr nieder, ergriff ihre Hände und begann zärtlich zu ihr zu reden.“
Eben diese Enttäuschung gibt es bei den Hauptfiguren in „Liebe in den Zeiten der Cholera“ nicht. Zum Ende des Romans sind beide alt, weißhaarig, faltig – und haben trotzdem die ganze Nacht Sex miteinander. Kühl ist jene Episode zwischen Madame Arnoux und Frédéric aber nicht, eher ergreifend. Ähnlich wie in „Madame Bovary“ verleiht Gustave Flaubert zum Schluss seinen mittelmäßigen Protagonisten eine tragische Größe. „Ihre Person“, so Frédéric zu Madame Arnoux, „Ihre geringsten Bewegungen schienen mir in der Welt von übermenschlicher Bedeutung zu sein. Mein Herz flog wie Staub hinter ihren Schritten auf.“ Es sei dahingestellt, ob das Hinknien und solche Worte etwas mit Würde zu tun haben - oder mehr auf Lüge basieren. Es ist jedenfalls Frédérics Abschied von seinen Illusionen.
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