Dienstag, 14. April 2009

Philipp Blom: Der taumelnde Kontinent

Von Manuel Karasek
Es liegt nahe, dass ein Buch, welches sich mit der unmittelbaren Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges beschäftigt, momentan Interesse weckt. Das hundertjährige Gedenken an die 'Mutter aller Katastrophen im 20. Jahrhundert' - wie Golo Mann einst den Krieg charakterisierte - liegt lediglich fünf Jahre vor uns. Philipp Blom - der in den letzten Jahren nicht allein als Historiker hervortrat, sondern ebenfalls als Verfasser fiktiver Werke - nennt sein jetzt auf Deutsch erschienenes Buch "Der taumelnde Kontinent", was schon ein wundervoller und dramatischer Titel ist, der allerdings ein wenig in die Irre führt.
Denn Blom, 1970 geboren, beschreibt die einzelnen 15 Jahre Vorkriegszeit - weswegen das Buch auch den Untertitel "Europa 1900-1914" trägt - nicht im Zeichen des Menetekel, sucht für seine Darstellung nicht die tragisch-attische Bühnenordnung. Er geht subtiler vor, entsprechend erscheint seine Methode. Die knapp 500 Seiten bieten 15 Kapitel - jedes davon widmet sich einem Jahr und einem Themenschwerpunkt. Das Eingangskapitel, das das Jahr 1900 thematisiert, widmet sich beispielsweise der Weltausstellung in Paris; und ist eine schöne Schilderung einer hegemonialen, vorwiegend europäischen Selbstdarstellung. Blom steht herrliches Material zur Verfügung, um die demonstrierte imperiale Prachtentfaltung zu beschreiben; und auch sein Befund hat etwas überzeugend Klares, wenn er die tiefen Unsicherheitsgefühle der Zeit umreißt als ein Ergebnis der enormen Geschwindigkeit in der industriellen Entwicklung und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen.
Mehrheitlich ist Bloms "Der taumelnde Kontinent" ein interessantes und anziehendes Porträt einer Epoche; jedoch hat das Buch auch seine Schwächen. Gerade letzteres ist ein Nebenprodukt der Methode. 1908 - so beginnt beispielsweise Kapitel 9 - gab es in London eine Demonstration mit einer halben Million Teilnehmer, die das Wahlrecht für Frauen forderten. Eine ausführliche Erzählung der frühen Frauenrechtbewegung folgt. Wieder setzt Philipp Blom sein reiches Material klug und geschickt ein, das selbst Gutinformierte überraschen wird. Wieder ist da eine vorwiegend narrativ-lineare Struktur zu erkennen, die die Geschichte der Suffragetten, wie die Frauenrechtlerinnen genannt wurden, gewinnend zu erzählen weiß. Doch gerade der lineare Verlauf gerät ein wenig in den Zustand einer trägen Masse. Es ist das Problem der zwingenden Abfolge, welches Blom erzählerisch nicht lösen kann. Das historische Material ist unbestritten attraktiv, aber auch riskant. Muss man, um ein anderes Beispiel zu nennen, die Geschichte der Marie Curie oder die Erfolgsstory Albert Einsteins, so interessant beide Lebensläufe auch sind, noch einmal derart entlang des Biographischen erzählt bekommen? Letztendlich unterwandert das Abzählen der Ereignisse gerade den Erzählprozess. Und das Absurde dabei ist: Blom unternimmt alles, um nicht in die Falle des chronologischen Erzählens hineinzugeraten. Der Autor kriegt nur manchmal sein reiches Material nicht anders in den Griff, als sich mit Redundanzen auszuhelfen.
Woran liegt das? Bloms Buch fehlt es nicht an einer Idee. Aber es fehlt ihm die Obsession, die von einer Idee ausgeht. Warum eine eigentlich hoch entwickelte Gesellschaft sich fast nur noch durch ein bis dahin ungekanntes Ausmaß an barbarischer Gewalt Ausdruck verschaffen konnte, ist ja nicht bloße Rhetorik, sondern die Nahtstelle auf einer alten Wunde, aus der der Schlangenkopf unseres ambivalenten Zivilisationsprozesses stets hervorzukriechen scheint. Wie weiß das Blom zu interpretieren?
Er entscheidet sich für folgende Leseart. Jedes Kapitel betont den Werteverlust in einer männerorientierten Gesellschaft, die aus dem patriarchalischen Geist entstanden war. Die Industrialiserung hat das männliche Rollenverständnis unterwandert, so Blom weiter, die Maschinen ersetzen die traditionellen Eigenschaften der Manneskraft, ja degradieren sie zu bloßen Muskelspielereien. Die starke Militarisierung der Gesellschaften ist dabei Ausdruck einer kollektiven Unsicherheit. Das ist eine ganz gute, nonchalant vorgetragene These, aber sie ist nicht ganz neu. So ist Bloms Buch zwar gut lesbar, aber es fehlt ihm von Zeit zu Zeit das Bezwingende.
Ein anderes Beispiel unterstreicht das Dilemma eines lesenswerten Textes. Blom beschreibt anschaulich und unterhaltsam, wie Kunstwerke von Picasso oder die Uraufführung von Strawinskys "Le Sacre du Printemps" heute schwer nachzuvollziehende Publikumsaufstände ausgelöst hatten - und deutet die Empörung als Ausdruck einer tiefen Unsicherheit, in der man den Fortschritt schon haben wollte, die Veränderungen, die dieser mit sich brachte, jedoch ablehnte. Gerade an der Kunstrezeption ließ sich dann die Problematik einer sich immer weiter der Technik verschreibenden Gesellschaft gut ablesen. Es gab eine Unauflösbarkeit der soziokulturellen Problemkomplexe und somit keine produktiven Annäherungen zwischen den einzelnen Positionen, die den technischen Fortschritt und die Forderungen einzelner Gruppen (Arbeiter, Frauen) vertraten. Das zeigt ja, dass es durchaus vorteilhaft gewesen wäre, wenn Blom mehr Deutungsmuster gesucht hätte, statt sich immer auf das Narrative zu verlassen.

Philipp Blom: Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914. 530 Seiten. 25,90 Euro.

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