Dienstag, 25. August 2009

Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch

Von Manuel Karasek
Grimmmelshausens Roman "Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch" ist ein ungelesener Klassiker. Jede Bibliothek in Deutschland verfügt über ein Exemplar, jeder gebildete Mensch hierzulande weiß, worum es in diesem dicken und alten Buch geht, aber gelesen hat es kaum einer. Grimmelshausen Roman ist der berühmteste deutsche Staubfänger in den Regalen von Graz bis Flensburg.
Dabei war das 600 bis 700 Seiten schwere Werk zu seiner Zeit 1668/69 ein großer Erfolg. Als Volksbuch wurde es tituliert, zog Raubdrucke und literarische Imitatoren nach sich, die Grimmelshausens Geschichte um einen einfältig-schlauen Helden in bodenlos brutalisierten Kriegszeiten unzählige Male variierten. Liest man den "Simplicissimus" in der neuen Übertragung ins moderne Deutsch von Reinhard Kaiser heute, fällt schnell auf, was dieses Buch hauptsächlich ist: Ein Bestseller aus dem 17.Jahrhundert, mit allen Ingrendenzien versehen, die einen populären Text ausmachen.
Aber warum gibt es jetzt überhaupt eine 'Übersetzung'? Die Versepen aus dem späten 10. und frühen 11. Jahrhundert müssen in ein heutiges Deutsch übertragen werden, weil der Sprung vom Mittelhochdeutschen ins heutige Idiom zu groß ist. Bei Werken aus dem Barockzeitalter heißt es, sie seien - wenn auch mit Schwierigkeiten - nachvollziehbar. Das stimmt zwar, aber ein Blick auf die kritische Wahrnehmung der letzten 20-30 Jahre zeigt, dass Werke aus dem Barock - sei es Gryphius oder Grimmelshausen - nur von Liebhabern und Spezialisten gelesen werden. Und das ist auch ein Resultat des veränderten Sprachgebrauchs. So gibt also nun Reinhard Kaiser den Deutschen eines seiner ältesten Volksbücher zurück. Was natürlich zu der Frage führt: Brauchen wir das unbedingt?
Die Handlung offenbart im ersten Teil des Buches jedenfalls einige sehr interessante und spannende Aspekte. Einer davon ist, dass Grimmelshausen seine Geschichte aus der Perspektive eines Bauernjungen aus dem Speesart erzählt, der unvermittelt und plötzlich mit den Grauen des Dreißigjährigen Krieges konfrontiert wird. Gleich zu Beginn verliert der Held sein soziales Umfeld durch marodierende Soldaten, die den väterlichen Hof niederbrennen und die Eltern samt Personal meucheln oder verschleppen. Bedenkt man, dass Grimmelshausen 1622 geboren wurde und ähnliche Erfahrungen wie sein Protagonist durchmachen musste, so spürt man sofort, dass der zunächst namenlose Ich-Erzähler die Schicksale der Jahrgänge teilt, die während des "Deutschen Krieges" geboren wurden - und letztlich nichts anderes kannten als eine Welt in anarchischem Ausnahmezustand. Gerade die Konstruktion um einen nahezu beziehungslosen wie ortsungebundenen Jungen ohne gesichertes kulturelles Fundament verrät etwas über die Gründe der Beliebtheit eines fiktionalen Textes, der 20 Jahre nach dem Friedensschluss von Worms publiziert wurde.
Ein anderer interessanter Aspekt ist ein bestimmter Kniff, den Grimmelshausen in seine Handlung einbaut. Auf der Flucht vor den Marodeuren gerät der Held in die Arme eines Einsiedlers, der den Jungen aufnimmt, ihm erst einen Namen gibt - er nennt ihn Simplicius, weil er ihn für einfältig hält - und schließlich in die christliche Lehre unterweist. Die offenbart sich als betont erimitisches Weltbild, welches abseits konfessioneller Streitigkeiten liegt. Und die waren ja die ideologische Grundlage für den sich ewig dahinziehenden Krieg auf deutschem Boden. So konfrontiert der Autor seine Hauptfigur, sobald dieser ohne seinen geistigen Vater - den Einsiedler - in die Welt zieht, ständig mit gesellschaflich instabilen, prekären Verhältnissen; und kommentiert die aus dem Blickwinkel desjenigen, der über eine ethische Grundlage verfügt, die auf die Vorstellung eines Urchristentums baut, ergo wie eine reine Lehre wirken muss. Was sich dabei zeigt (und reizvoll auch daherkommt), ist eben die grotesk gefärbte Diskrepanz zwischen Lehre und Wirklichkeit. Grimmelshausen beschreibt mit leichter Hand die dünne Decke aus Behauptungen religiösen Inhalts, unter der die wahren Beweggründe des Kriegstreibens sichtbar werden: Profitgier, militärischer Ehrgeiz, politisches Kalkül, Eitelkeit und andere Besessenheiten halten den Kessel warm.
Die Darstellung dieses Krieges auf den ersten 250 Seiten ist das bestechende Merkmal des Romans, auch weil es Grimmelshausen gelingt, anhand eines exemplarischen Falles zu zeigen, wie der Krieg zur sozioökonomischen Halsschlagader im deutschen Gesellschaftskörper des 17. Jahrhunderts wird. Simpliucius dient als Knecht, Knappe, Narr oder Lautenspieler verschiedenen Offizieren, wird dann später- als er seine Volljährigkeit erreicht - selber Soldat, wobei er sich aufgrund seiner Guerillamentaliät rasch einen Namen macht, und versieht seinen Dienst schließlich abwechselnd in den kaiserlichen oder schwedischen Truppen. Man hat gerade solche Passagen immer wieder als modern und zeitlos bezeichnet. Und tatsächlich gewinnt man als Leser das untrügliche Gefühl, über die Heldengeschichte hinaus den Grundriss eines Gesellschaftssystems zu erblicken, deren Ordnungsprinzipien sich aus einer endlosen Reihe von Scharmützeln und Schlachten mit hohem Opferanteil zusammensetzten. Und man begreift darüber hinaus, dass der "Deutsche Krieg" von 1618 bis 1648 für die nachfolgenden Generationen das Ereignis war, an dem man sich selbst als Individuum mit historischem Bewusstsein reflektierte. Der Erfolg von Grimmelshausens Buch ist auch ein Resultat eines vertikalen Geschichtsverständnisses. Bis ins späte 18. Jahrhundert kann man die Spuren dieses Denkens verfolgen, bis in die Weimarer Klassik, in der Schiller und Goethe die barbarische Aggression im Kollektiv des 17. jahrhunderts für überwunden erklärten. Insofern lesen wir das Buch ähnlich, auch weil Reinhard Kaisers gelungene Übertragung unabsichtlich eine bestimmte Nähe produziert: Unsere heutige Geschichtsauffassung beeinflusst nämlich unweigerlich die Wahrnehmung des Textes. Auch uns dient die Geschichte als Erklärung für die heutige Zeit. Und unser Lieblingsbeispiel ist der Zweite Weltkrieg. Den klopfen wir immer wieder auf sein pädagogisches Potential ab.
Das ist alles zweifelsohne und unbedingt interessant. Und das alles wird man Reinhard Kaiser hoch anrechnen. Es verdeckt jedoch, dass Grimmelshausen alles andere als begnadeter Autor gewesen ist. Im Vergleich mit Dichtern seiner Zeit wie beispielsweise Corneille, Racine oder Milton erweisen sich seine sprachlichen, formaltechnischen und dramaturgischen Fähigkeiten als eher kümmerlich. Zum Problem seines "Simplicissimus" wird die durchgehend beibehaltene episodische Struktur, die nie eine Auflösung kennt. Anekdote auf Anekdote folgt. Schon die Kritik der 1670er Jahre sprach von einem "werklichen Mischmasch" und monierte das "zusammengestickelte". Und auch die Romantiker kritisierten an Grimmelshausens Erzählkonzept das Auslaufen in unendliche Schnurren. Zwar ist unübersehbar der schöne Nebeneffekt, dass Grimmelshausen ebenfalls die Geschichte eines opportunistischen Aufsteigers aus niedrigen Verhältnissen erzählt, aber bei der Darstellung der einzelnen Stationen der Karriere Simplicius' verliert der Autor den Blick für die Wechselwirkungen zwischen Protagonist und Umfeld, weicht ins Phantastische aus. Seine Geschichte wird gewöhnlich und langweilig. So findet Glückspilz Simplicius einmal einen sagenhaften Schatz auf einem verlassenen Hof, der ihn im Nu einige soziale Stufen hinaufbefördert. Oder ein andermal fährt der schlaue Simpel nach Paris und wird dort prompt zum Theaterstar. Und weil er Laute spielt und singt, glaubt man in diesen Szenen der Geschichte eines barocken Schlagersängers zu folgen, der alle Frauen von Paris kriegt. In dieser tollen Hechtsuppe ertrinkt das dramaturgische Konzept schließlich. Allerdings bemerkt man gerade durch die schwachen Stellen, dass hier der Stoff - nämlich die Thematisierung des Krieges - für die Größe des Autors verantwortlich ist. Als dieser sein narratives Pulver verschossen hat, bleibt wenig an Substanz übrig.

Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch. Zwei Bände. Mit Anmerkungen circa 750 Seiten. In einer Kassette. Eichborn - Andere Bibliothek 2009. 69 Euro

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