Donnerstag, 5. November 2009

Dietmar Dath: Sämmtliche Gedichte

Von Manuel Karasek
In den letzten Jahren wurde kein deutschsprachiger Autor so gründlich missverstanden wie Dietmar Dath – wobei das Missverstehen die Eigenschaft hatte, in zwei unterschiedliche Richtungen auszuschlagen. In die kritischen Reaktionen mischte sich entweder schlechte Laune u. a. wegen der eigenwilligen, beinahe hybriden Auffassung von Prosa, die sich in den Texten von Dath manifestiert. Oder das Weltbild des Autors mit seinem eigenbrötlerisch wirkenden Marxismus befremdete. Man kann dieses Missverstehen dann aber auch über eine Dialektik zu fassen kriegen, die sich von seinen zahlreichen Romanen und Essays ableiten lässt. Vereinfacht ausgedrückt: Dath möchte missverstanden werden. Und genauso ist er ein Denker mit deutlichem Hang zur Pointierung, was wiederum heißt, dass es hier nichts misszuverstehen gibt.
Es passt dann eben auch, dass Dietmar Dath in seinem neuen Buch als Nebenfigur auftaucht – als Berater und Medienspezialist eines märchenhaft reichen Mannes, der Colin Kreuzer heißt und schon in einem anderen Roman Daths eine tragende Rolle spielte. Dass gerade die Hauptfigur Adam Sladek, ein Dichter, das Werk Daths schließlich gering schätzt, wäre in einer Ironie freien Lesart der gebrochene Kommentar zur Kritik. Aber selbst die Ironie kommt viel feiner daher als man zuerst annimmt. „Sämmtliche Gedichte“ heißt der 280 Seiten lange Roman, wobei das neutral wirkende Eigenschaftswort absichtlich mit einem „m“ mehr versehen wurde.
So schrieb man den Begriff im 18. Jahrhundert, erinnert Dath einmal den Lyriker Sladek, der eine Einladung des mysteriös-düsteren Moguls Kreuzer angenommen hat; und nun ein großzügiges Angebot erhält: Ein Buch mit seinen Gedichten soll unter diesem Titel publiziert werden, zusätzlich erhält der Verfasser ein größenwahnsinniges Honorar. Was auffällt dabei: Sobald Dath seinen Auftritt hat, nimmt man Adam Sladek stärker wahr. Das hat letztendlich mit den gegensätzlichen Persönlichkeiten zu tun: Dath ist kompliziert und verschwurbelt, Sladek klar und präzise. Der eine hat einen pessimistischen Zug, wenn es um einen Zukunftsentwurf geht, der andere verfügt über ein emphatisches Utopieverständnis. Der eine steht im Schatten, der andere im Lichtkegel der Scheinwerfer.
Auf der Oberfläche einer reinen Handlung geht es in Dietmar Daths Roman um einen Mann, zu dessen Selbstverständnis größtmögliche Unabhängigkeit im Geistigen gehört, der sich weder den Massen noch den Eliten zugehörig fühlt; und der von einer Gestalt, dessen Umrisse klar die Konturen der James-Bond-Gegenspieler aufweisen, ein unmoralisches Angebot erhält. Was gleich bedeutend ist mit einer Gefährdung jener Unabhängigkeit.
Unter dieser Ebene beschäftigt sich Dath jedoch vor allem mit klassischen Formaten antiker Lyrik – und verfasst diese über seinen „Stellvertreter“ Sladek. Die klingen dann beispielsweise so: „Ich danke dir, die du kretische Amnisos-Ebene/ die du den Diktynna-Berge umschreitest.“ Oder ein anderes Beispiel geht schließlich so: „Als Aphrodite bin ich, was den kühnen Traum/ Von Zauber angeht, den ich, wo ich gehe/ Um mich verbreite, so wie Duft im Raum/ Leicht schwebt und gaukelt.“
Das muss den einen oder anderen erstmal vollkommen erstaunen. Warum in Gottes Namen brauchen wir denn jetzt die Anrufung der alten Götter? Das war doch eher Schillers Spezialität – und die hat die Gebrüder Schlegel manchmal zu Lachanfällen bewegt. Hier ist das aber anders. Diese Gedichte sind – vor allem wenn man sich allmählich eingelesen hat - tatsächlich beeindruckend in ihrer Schönheit, weil unter anderem durch sie ein Grundgedanke lyrischer Konzeption durchscheint.
Denn die Zugriffe auf die polytheistische Welt von Apollo und Artemis begreift Sladek nicht als poetische Leerformel, die dann auf Hölderlin und Ovid zurück verweisen, sondern als klare, präzise utopische Formeln einer freien und unabhängigen Lebensgestaltung. Seine Verse sind also indirekt soziopolitisch determiniert, das Anliegen jedoch von keinerlei idealistischer Programmatik verbogen. Bestechend daran ist eben auch, dass über Sladeks Lyrik der Charakter beispielsweise der vorwiegend idealistischen Poesie des ausgehenden 18. Jahrhunderts sichtbar wird – ohne dass hier hohle pathetische Gesten erneut zelebriert werden.
Dath behandelt über die poetische Rekonstruktion des Antiken im Lichte der Jetzt-Zeit letztendlich die alte, prekäre Frage nach dem übergreifenden Sinn ästhetischer Konzepte. Das alles hat schließlich auch einen polemischen Anteil. Wenn - so impliziert der Text - ein so steinreicher Mann wie Colin Kreuzer nach Belieben alles einkaufen kann, was ihm in dem Sinn kommt, dann muss das erworbene poetische Produkt von Adam Sladek unter dem Druck einer scharfen Instrumentalisierung geraten – und so der konstitutionell wirkende Unabhängigkeitsanteil daran fragwürdig werden.
Unter belletristischen, konservativen Gesichtspunkten ist „Sämmtliche Gedichte“ natürlich ein sperriges Werk. Was soll man anderes sagen? Seine Spannung bezieht es jedoch über die Dreieckskonfrontation Dath, Sladek und Kreuzer. Wobei man dann wieder beim scheinbaren Nichtbegreifenkönnen des Werkes von Dath wäre. Und der Dialektik.Und der Unauflösbarkeit davon.

Dietmar Dath: Sämmtliche Gedichte. Roman. Suhrkamp 2009. 284 Seiten. 22,80 Euro

Dienstag, 25. August 2009

Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch

Von Manuel Karasek
Grimmmelshausens Roman "Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch" ist ein ungelesener Klassiker. Jede Bibliothek in Deutschland verfügt über ein Exemplar, jeder gebildete Mensch hierzulande weiß, worum es in diesem dicken und alten Buch geht, aber gelesen hat es kaum einer. Grimmelshausen Roman ist der berühmteste deutsche Staubfänger in den Regalen von Graz bis Flensburg.
Dabei war das 600 bis 700 Seiten schwere Werk zu seiner Zeit 1668/69 ein großer Erfolg. Als Volksbuch wurde es tituliert, zog Raubdrucke und literarische Imitatoren nach sich, die Grimmelshausens Geschichte um einen einfältig-schlauen Helden in bodenlos brutalisierten Kriegszeiten unzählige Male variierten. Liest man den "Simplicissimus" in der neuen Übertragung ins moderne Deutsch von Reinhard Kaiser heute, fällt schnell auf, was dieses Buch hauptsächlich ist: Ein Bestseller aus dem 17.Jahrhundert, mit allen Ingrendenzien versehen, die einen populären Text ausmachen.
Aber warum gibt es jetzt überhaupt eine 'Übersetzung'? Die Versepen aus dem späten 10. und frühen 11. Jahrhundert müssen in ein heutiges Deutsch übertragen werden, weil der Sprung vom Mittelhochdeutschen ins heutige Idiom zu groß ist. Bei Werken aus dem Barockzeitalter heißt es, sie seien - wenn auch mit Schwierigkeiten - nachvollziehbar. Das stimmt zwar, aber ein Blick auf die kritische Wahrnehmung der letzten 20-30 Jahre zeigt, dass Werke aus dem Barock - sei es Gryphius oder Grimmelshausen - nur von Liebhabern und Spezialisten gelesen werden. Und das ist auch ein Resultat des veränderten Sprachgebrauchs. So gibt also nun Reinhard Kaiser den Deutschen eines seiner ältesten Volksbücher zurück. Was natürlich zu der Frage führt: Brauchen wir das unbedingt?
Die Handlung offenbart im ersten Teil des Buches jedenfalls einige sehr interessante und spannende Aspekte. Einer davon ist, dass Grimmelshausen seine Geschichte aus der Perspektive eines Bauernjungen aus dem Speesart erzählt, der unvermittelt und plötzlich mit den Grauen des Dreißigjährigen Krieges konfrontiert wird. Gleich zu Beginn verliert der Held sein soziales Umfeld durch marodierende Soldaten, die den väterlichen Hof niederbrennen und die Eltern samt Personal meucheln oder verschleppen. Bedenkt man, dass Grimmelshausen 1622 geboren wurde und ähnliche Erfahrungen wie sein Protagonist durchmachen musste, so spürt man sofort, dass der zunächst namenlose Ich-Erzähler die Schicksale der Jahrgänge teilt, die während des "Deutschen Krieges" geboren wurden - und letztlich nichts anderes kannten als eine Welt in anarchischem Ausnahmezustand. Gerade die Konstruktion um einen nahezu beziehungslosen wie ortsungebundenen Jungen ohne gesichertes kulturelles Fundament verrät etwas über die Gründe der Beliebtheit eines fiktionalen Textes, der 20 Jahre nach dem Friedensschluss von Worms publiziert wurde.
Ein anderer interessanter Aspekt ist ein bestimmter Kniff, den Grimmelshausen in seine Handlung einbaut. Auf der Flucht vor den Marodeuren gerät der Held in die Arme eines Einsiedlers, der den Jungen aufnimmt, ihm erst einen Namen gibt - er nennt ihn Simplicius, weil er ihn für einfältig hält - und schließlich in die christliche Lehre unterweist. Die offenbart sich als betont erimitisches Weltbild, welches abseits konfessioneller Streitigkeiten liegt. Und die waren ja die ideologische Grundlage für den sich ewig dahinziehenden Krieg auf deutschem Boden. So konfrontiert der Autor seine Hauptfigur, sobald dieser ohne seinen geistigen Vater - den Einsiedler - in die Welt zieht, ständig mit gesellschaflich instabilen, prekären Verhältnissen; und kommentiert die aus dem Blickwinkel desjenigen, der über eine ethische Grundlage verfügt, die auf die Vorstellung eines Urchristentums baut, ergo wie eine reine Lehre wirken muss. Was sich dabei zeigt (und reizvoll auch daherkommt), ist eben die grotesk gefärbte Diskrepanz zwischen Lehre und Wirklichkeit. Grimmelshausen beschreibt mit leichter Hand die dünne Decke aus Behauptungen religiösen Inhalts, unter der die wahren Beweggründe des Kriegstreibens sichtbar werden: Profitgier, militärischer Ehrgeiz, politisches Kalkül, Eitelkeit und andere Besessenheiten halten den Kessel warm.
Die Darstellung dieses Krieges auf den ersten 250 Seiten ist das bestechende Merkmal des Romans, auch weil es Grimmelshausen gelingt, anhand eines exemplarischen Falles zu zeigen, wie der Krieg zur sozioökonomischen Halsschlagader im deutschen Gesellschaftskörper des 17. Jahrhunderts wird. Simpliucius dient als Knecht, Knappe, Narr oder Lautenspieler verschiedenen Offizieren, wird dann später- als er seine Volljährigkeit erreicht - selber Soldat, wobei er sich aufgrund seiner Guerillamentaliät rasch einen Namen macht, und versieht seinen Dienst schließlich abwechselnd in den kaiserlichen oder schwedischen Truppen. Man hat gerade solche Passagen immer wieder als modern und zeitlos bezeichnet. Und tatsächlich gewinnt man als Leser das untrügliche Gefühl, über die Heldengeschichte hinaus den Grundriss eines Gesellschaftssystems zu erblicken, deren Ordnungsprinzipien sich aus einer endlosen Reihe von Scharmützeln und Schlachten mit hohem Opferanteil zusammensetzten. Und man begreift darüber hinaus, dass der "Deutsche Krieg" von 1618 bis 1648 für die nachfolgenden Generationen das Ereignis war, an dem man sich selbst als Individuum mit historischem Bewusstsein reflektierte. Der Erfolg von Grimmelshausens Buch ist auch ein Resultat eines vertikalen Geschichtsverständnisses. Bis ins späte 18. Jahrhundert kann man die Spuren dieses Denkens verfolgen, bis in die Weimarer Klassik, in der Schiller und Goethe die barbarische Aggression im Kollektiv des 17. jahrhunderts für überwunden erklärten. Insofern lesen wir das Buch ähnlich, auch weil Reinhard Kaisers gelungene Übertragung unabsichtlich eine bestimmte Nähe produziert: Unsere heutige Geschichtsauffassung beeinflusst nämlich unweigerlich die Wahrnehmung des Textes. Auch uns dient die Geschichte als Erklärung für die heutige Zeit. Und unser Lieblingsbeispiel ist der Zweite Weltkrieg. Den klopfen wir immer wieder auf sein pädagogisches Potential ab.
Das ist alles zweifelsohne und unbedingt interessant. Und das alles wird man Reinhard Kaiser hoch anrechnen. Es verdeckt jedoch, dass Grimmelshausen alles andere als begnadeter Autor gewesen ist. Im Vergleich mit Dichtern seiner Zeit wie beispielsweise Corneille, Racine oder Milton erweisen sich seine sprachlichen, formaltechnischen und dramaturgischen Fähigkeiten als eher kümmerlich. Zum Problem seines "Simplicissimus" wird die durchgehend beibehaltene episodische Struktur, die nie eine Auflösung kennt. Anekdote auf Anekdote folgt. Schon die Kritik der 1670er Jahre sprach von einem "werklichen Mischmasch" und monierte das "zusammengestickelte". Und auch die Romantiker kritisierten an Grimmelshausens Erzählkonzept das Auslaufen in unendliche Schnurren. Zwar ist unübersehbar der schöne Nebeneffekt, dass Grimmelshausen ebenfalls die Geschichte eines opportunistischen Aufsteigers aus niedrigen Verhältnissen erzählt, aber bei der Darstellung der einzelnen Stationen der Karriere Simplicius' verliert der Autor den Blick für die Wechselwirkungen zwischen Protagonist und Umfeld, weicht ins Phantastische aus. Seine Geschichte wird gewöhnlich und langweilig. So findet Glückspilz Simplicius einmal einen sagenhaften Schatz auf einem verlassenen Hof, der ihn im Nu einige soziale Stufen hinaufbefördert. Oder ein andermal fährt der schlaue Simpel nach Paris und wird dort prompt zum Theaterstar. Und weil er Laute spielt und singt, glaubt man in diesen Szenen der Geschichte eines barocken Schlagersängers zu folgen, der alle Frauen von Paris kriegt. In dieser tollen Hechtsuppe ertrinkt das dramaturgische Konzept schließlich. Allerdings bemerkt man gerade durch die schwachen Stellen, dass hier der Stoff - nämlich die Thematisierung des Krieges - für die Größe des Autors verantwortlich ist. Als dieser sein narratives Pulver verschossen hat, bleibt wenig an Substanz übrig.

Grimmelshausen: Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch. Zwei Bände. Mit Anmerkungen circa 750 Seiten. In einer Kassette. Eichborn - Andere Bibliothek 2009. 69 Euro

Sonntag, 14. Juni 2009

Daniel Kehlmann: Ruhm

Von Manuel Karasek

Ein älterer und ein junger Schriftsteller, die einmal gemeinsam im Berlin der frühen 30er Jahre vor überwiegend russischen Emigranten lesen. Und nach der Lesung wird der ältere über den jungen sagen, dieser habe ein Gewehr genommen, gezielt und abgedrückt. Ein drastisches Bild, das Bunin als Charakterisierung der soeben vernommenen Prosa von Vladimir Nabokov gebrauchte – und eine Anekdote, die manchmal Verwendung im Zusammenhang mit strukturellen Merkmalen nabokovscher Texte fand. Sie sollte auch einen frühen Moment der Postmoderne festhalten. Das Spiel mit dem auktorialen Erzähler, dem Handlungsverlauf und den Figuren, die gemeinsam mit ihren Lesern in Spiegelkabinette oder in die gähnende Leere von Falltüren treten. Allerlei illusionistische Tricks, doppelte Böden, Täuschungsmanöver, die das lineare Erzählen des 19. Jahrhundert aufgebrochen haben - das war es wohl, was Bunin als Vertreter einer älteren Generation mit dem Vergleich gemeint hatte. Das ist alles lange her.
In Daniel Kehlmanns neuem Roman „Ruhm“ steckt sich in einer Szene ein brasilianischer Verfasser weltweit verbreiteten Ratgeberschwulstes - der auch noch einen wunderschön kitschigen Namen trägt: Miguel Auristos Blanco - an einem herrlichen Morgen den Pistolenlauf in den Mund. Ob er in der nächsten Sekunde abdrücken oder auf den Selbsttötungsversuch verzichten wird, das wird dem Leser nicht verraten, weil (A) zum Prinzip dieses Romans Geschichten mit offenen Enden gehören und weil (B) eine Auflösung des Erzählschlusses die zentrale Idee des Buches unterwandert hätte. Man muss verstehen, was an Daniel Kehlmanns jüngstem Werk großartig wie gleichermaßen amüsant ist. Nämlich dass es mit aller Deutlichkeit dahingehend konzipiert ist, dass es die Kritik, die beim Erscheinen des Buches laut werden würde, regelrecht auf unterschiedlichen Metaebenen antizipiert.
Wie ist der Autor da vorgegangen? Wie hat er sein Material verarbeitet? Natürlich erinnert der in einer Penthousesuite hausende Blanco an den brasilianischen Kuschelliteraten Coelho – und nicht an Daniel Kehlmann. Und natürlich ist der satirische Einschlag in der Beschreibung eines megaerfolgreichen Autors, der aufgrund eines einzigen und aufrichtig religiös gefärbten Leserbriefes seine vermurmelten Weltweisheiten plötzlich für ein inakzeptables Lügengebäude hält, nicht zu überlesen. Aber das Bild spricht gar nicht zu Coelho, es will ihn nicht mal angreifen.
Kehlmann entwirft eher ein chiffriertes Bild, das im Zusammenhang mit der öffentlichen Debatte um sein Werk in den letzten Jahren steht; und in der - entweder offen oder zwischen den Zeilen – gerade wegen des großen Erfolgs an seiner literarischen Potenz gezweifelt wurde. Denn die Pistole, die sich Blanco in den Mund steckt, richtet sich im Gesamtkontext des Romans auf die Erwartungen des Kommentars. Und die anderen Geschichten sind - um im Bild zu bleiben – seine Munition. Jede Erzählung funkelt virtuos und von einer an Nabokov erinnernden Schlauheit aufgeladen auf seine Weise.
Der lineare Erzählverlauf funktioniert dann folgendermaßen: Da gibt es den neurotischen Schriftsteller Leo Richter, der bei einer Lesereise durch Südamerika immer die selben Fragen vom Publikum gestellt bekommt. Ein paar Kapitel später sieht man die Krimiautorin Maria Rubinstein in ein fernöstliches Land fahren, wo sie den Kontakt mit ihrer Reisegruppe verliert - und schließlich hoffnungslos durch die Fremde geistert. Zwischendurch hat der Leser Bekanntschaft mit der todkranken Lara Gaspard gemacht, die ihre letzte Reise nach Zürich zu einer Sterbehilfe-Klinik antritt.
Die Falltüren und Spiegelkabinette, die Kehlmann geschickt in den Textkorpus baut, sind dann beispielsweise diese: Leo Richter bittet per Handy sein Management darum, anstatt seiner Maria Rubinstein die lästige Einladung annehmen zu lassen. Lara Gaspard ist die Figur einer bekannten Erzählung von dem selben Schriftsteller – und wenn sie Gott in ihrer Verzweiflung darum bittet, sie weiterleben zu lassen, wendet sie sich just an den Autor mit den Namen Leo Richter. Und auf den Flughäfen liegen zum Verkauf die Bücher Blancos. Es gibt lauter solcher verstreuter Motive, die eindeutig zum Ensemble des Virtuosen beitragen.
Mit dieser Methode bedient Kehlmann nicht nur das Publikum, sondern auch einen konservativen Diskurs, denn er verortet sich selbst und seine ästhetische Weltanschauung in einem postmodernen Traditionsverständnis, das über Nabokov und Borges bis hin zu Vargas Llosa und Paul Auster reicht. Als Effekthascherei eines literarischen Enkels sollte man das allerdings nicht verstehen, gerade weil man nach „Ruhm“ spätestens weiß: Der Mann kann gut zielen.

Daniel Kehlmann: Ruhm. Ein Roman in neun Geschichten. 200 Seiten. Rowohlt. 2009 Reinbek. 18,90 E

Sonntag, 31. Mai 2009

Dietmar Dath: Die salzweißen Augen

Von Manuel Karasek

Pornographie ist eigentlich ein dankbares Thema für einen grundlegenden Diskurs. Doch die tauglichen Publikationen dazu haben mehr oder weniger Seltenheitswert. Eines der Kapitel in Dietmar Daths 2005 erschienenem Buch „Die salzweißen Augen“ ist überschrieben mit „Brief über die Pornographie und Verträge“ - und auch sonst geht es hier um eindeutiges Material. Der bemerkenswerte zentrale Denkmoment im Text hat schließlich mehr als die Gestalt einer These aus dem Geiste der Behauptung; die Beweisführung verfügt über etwas Zwingendes nahe an der Empirie. Dietmar Dath, geboren 1971 und ehemals redaktionell tätig in der Spex und im Feuilleton der FAZ, sieht Produkte der pornographischen Industrie abseits des belustigten, aus der Richtung Boulevard und Comedian schlagenden Blicks. Für den Autor sind Hardcore-Produktionen vor allem Ausdruck einer gesamtgesellschaftlichen Kapitulation vor dem Erbe der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Verkürzt dargestellt lautet seine Kernthese: Pornographie - und auch andere Produkte der Kulturindustrie wie Splatter-Movies, Horrorromane und Heavy-Metal-Musik – ist (sind) die ästhetische Reaktion auf ein gescheitertes Gleichheits- und Freiheitspostulat.
Die Verknüpfung zu 1789 mit einem Aspekt der modernen Kulturindustrie ist natürlich erläuterungsbedürftig. Sie lässt sich zunächst über die antiquiert wirkende Form des Werkes beantworten. Die Nähe zum 18. Jahrhundert sucht (und findet) Dath - der schriftstellerisch rasend und rasch seine Erzeugnisse in die merkwürdig langsame Welt katapultiert – in dem alten Format des Briefromans, den ein junger Mann von etwa 30 Jahren (David) einer ehemaligen, angebeteten Schulfreundin (Sonja) schreibt. Es gibt einen narrativen Zweig, der die Geschichte vom Aussteiger Paul erzählt, der sich in „einem Kuhdorf“ in eine scheinbar debile, dafür aber umso schönere "Bauerntochter" verliebt – einen Strang, den Dath in seinem zwei Jahre später publizierten Roman „Dirac“ weiterspinnt.
Auch der Untertitel des knapp 200seitigen Romans („Briefe über Drastik und Deutlichkeit“) schließt an diese Verknüpfung an und verweist auf die Terminologie. So fasst der fiktive Verfasser ein Teil der populären Kultur – Porno, Horror etc. / und Elemente davon, die beispielsweise in Hollywoodfilmen oder in der Fernsehkultur zirkulieren - über den Begriff „Drastik“ – eine brillante Begriffswahl in einem groß angelegten Essay; der eine Dynamik und Energie aufzuweisen hat, die die Hintergrundgeschichte um David, Sonja und Paul im Vergleich substantiell ein wenig dünn wirken lässt.
Dass hier aber - oberflächlich gesehen - die Kombination von Vorstellungskraft und Theorie scheinbar nicht gelingt – die Liebesgeschichten von David und Paul haben einen zu flachen Atem, mag man monieren - , hat einen skurrilen Reiz. Den begreift man über die vom Autor gelegten Pfade: narrative Umwege, Sackgassen, Einbahnstrassen im Dienste theoretischer Erörterungen. Denn Dath erzählt zwar nicht die Geschichte von Hölderlin, Fichte und Hegel, die als junge Gymnasiasten im Herbst 1789 im Schwabenlande gemeinsam einen Baum als Symbol für ihre Hoffnungen, die sie in die französische Revolution setzten, pflanzten. Und er berichtet auch nicht von der Wende 1989, die mit den Abiturprüfungen der Protagonisten zusammenfallen müsste. Aber er macht deutlich, dass Paul und David ähnliche Setzlinge in ihren weltanschaulichen Boden setzen; und was dann sprießt, sieht im Ergebnis bizarr aus: Daths Text ist nämlich die Beschreibung aus einem intellektuellen Baumhaus heraus, dass das Blühen einer monströsen, Fleisch fressenden Pflanze beobachtet: Es handelt sich um den verbogenen Zugriff der Moderne auf alte zentrale Ideen der Aufklärung. Das ist Daths Thema.
Interessant wird sein Diskurs um Sex und Horrorundergroundkultur schließlich, wenn man ihn in drei Teile bricht. Der erste - der textnaheste - Aspekt kreist um den Befund eines ehemals postulierten Gleichheitsprinzips, an den die jetzige Moderne nicht mehr glauben kann. Wenn beispielsweise die Attribute der 68er von der Befreiung des Sexes letztendlich nur in der Warenwelt der Porno-Industrie zu finden sind, heißt das - so Dath, dass die Menschen nicht im gleichen Maße und in freier Weise über ihr Verlangen und deren Befriedigung verfügen. Im Gegenteil: Sie entpolitisieren die Sehnsüchte als Konsumenten von Pornografie. Und weiter bedeutet das, dass sie nicht mehr daran glauben, dass Forderungen in einer solchen Richtung überhaupt etwas bringen. Sie wissen um die unwiderlegbare Kopplung von Sex und Kapital. Ähnlich lautet Daths Diagnose im Zusammenhang mit Splatter-Movies und Heavy-Metal-Musik.
Der zweite Aspekt wird interessant durch das Hintergrundrauschen der Debatte, die Houellebecqs Romane vor zehn Jahren auslösten – die Dath nirgendwo zitiert, aber auch nicht zu erwähnen braucht (man kommt von selbst drauf). Das Fehlschlagen der sexuellen Revolution von 1968 bedeutete – wir erinnern uns - für Houellebecqs Romanfiguren vor allem zynischer Eskapismus, ein Arrangement mit den kapitalistischen Strukturen. Auf der einfachsten Metaebene liest sich das dann so: Dass der Mensch selbst eine so schöne Angelegenehieit wie die Liebe und den Sex von Grund auf hässlich gestaltet. Er schafft ergo nichts Schönes. Und für ein so missratenes Wesen gibt es kein Medikament. Dath entwirft zumindest die Umrisse eines Rezeptes, das man für fragwürdig oder bedenkenswert halten kann. Sicherlich setzt Dath (beziehungsweise seine Hauptfigur) den Freiheitsbegriff (der unmittelbar an ein schwer zu definierendes Gleichheitsverständnis anschließt) absolut, ohne diesen von seinen eigenen Künstlerbedingungen zu lösen. Die Lösungsvorschläge bleiben insofern am Atavismus moderner Gesellschaften hängen. Das wäre eine Möglichkeit kritischer Erwiderung. Aber diese Art von Kritik übersieht dann gerne, dass der Charakter des Textes über sein scharfes kritisches Potential nicht hinausgehen kann, weil ein gesellschaftspolitischer Gesamtentwurf den Rahmen eines solchen Briefromans sprengen würde. Holt man zum großen Wurf aus, macht man eher etwas, dass beispielsweise an die große Systemkritik von Bourdieu oder Marx anschließt.
Der dritte Aspekt hängt mit den theoretischen Überlegungen selbst zusammen. Im systematischen Denken gibt es immer einen oder mehrere Augenblicke, in dem sich dieses von seinen Gegenstand löst. Aus Entwurf wird Emphase. Die anfängliche Schwerfälligkeit der Konzeption bekommt plötzlich und unerwartet eine Raum erobernde Schwerelosigkeit. Das Attraktive an Daths Briefroman ist gerade dieses sich in die Höhe schwingen - oder anders ausgedrückt: Seine unbedingte Anteilnahme am Stoff. Nüchterner dargestellt kann man das Gelingen des Werkes auch in dem Umstand finden, dass Theorien über popkulturelle Phänomene eine schwere Übung darstellen - und Dath die Aufgabe glänzend löst. Thomas Groß, der exzellente Kritiker von Popmusik (ehemals taz, dann in der Zeit), hat in dem Vorwort zu „Berliner Barock“ mal geschrieben, seine Arbeit gleiche oftmals der Kaffeesatzleserei. Natürlich ist das eine beabsichtigte Unschärfe. Daths Buch jedenfalls gelingt es, eine Schneise durch schwieriges Material zu schlagen – um am Ende glaubt man nicht nur eine Lichtung zu sehen, sondern eine Siedlung.
Dennoch bleibt man auch ein wenig skeptisch, weil dieses Denken frontale idealistische Züge trägt, wenig Anteile an Pragmatismus. So jedenfalls die Kritik in der NZZ vor drei Jahren. Jedoch: Das Fehlen von Ironie (oder Selbstironie) kann man Dath eigentlich nicht vorwerfen.

Dietmar Dath: Die salzweißen Augen. Vierzehn Briefe über Drastik und Deutlichkeit. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005. 19, 80 Euro

Freitag, 1. Mai 2009

Chaim Noll: Der goldene Löffel

Von Manuel Karasek

Zwanzig Jahre ist es her, seitdem der antifaschistische Schutzwall fiel, die betongraue Gefängniswand der DDR. Nur wenige Jahre später folgten die literarischen Insiderberichte der vorwiegend jungen (und letzten) Generation des ehemaligen deutschen Arbeiter- und Bauernstaates. Die Literaturkritik erwartete in jenen Jahren viel von diesen Schreibern, eigentlich viel zu viel. Lustiges gab es schließlich von Brussig, episches von Jirgl, Schulze, Havemann und Tellkamp: Türme der Erinnerungen.
Chaim Nolls Roman „Der goldene Löffel“ erschien im Frühjahr 89, in der BRD - und wurde wenig beachtet. Gleichwohl das Buch die späten Siebziger Jahre in Ost-Berlin thematisiert, ist es ein Text über die Wendezeit – gerade weil der Roman die ständige gesellschaftliche Agonie der DDR auf gerade mal knapp 250 Seiten auf den Punkt bringt. Adam heißt der Ich-Erzähler in der jetzt beim Verbrecher Verlag erschienenen Neuauflage. Noll lässt ihn die Geschichte eines jungen Mannes aus privilegierten Verhältnissen erzählen, der Kunst studiert, sich in eine verheiratete Frau verliebt und schließlich die gestanzte Karriere als Parteimitglied aufgibt. Das scheinbar Unaufregende und Beispielhafte dieses Werdegangs und die schier unglaublich giftige Öde in solchen DDR-Biographien: Man meint all dies zu kennen, stellt aber schnell fest, dass es Noll schafft, diese Elemente in aufregende Motive zurück zu verwandeln.
Das hängt unter anderem mit der knappen Darstellung zusammen. Allein für die Beschreibung der Beziehung Adams zu seinem Vater benötigt Noll nur wenige Seiten. Auf diesen gelingt es ihm allerdings, komplexe Vorgänge klar und spannend zu schildern. Der Vater - ein renommierter Soziologe – verteidigt bei einem Disput den gesellschaftspolitischen Entwurf der DDR, ist aber innerlich längst ausgebrannt von der zermürbenden Trägheit und intriganten Atmosphäre der Apparate. Der Sohn durchschaut die Strategien im Dienste komplizierter Leugnungen, die die gegenseitige Befremdung jedoch verstärken.
Es gibt mehrere solcher Schlüsselszenen im Roman, in denen Noll die Beziehungsmuster im Alltagskontext der DDR beschreibt. Ihre Anziehungskraft beziehen sie auch aus der Leichtigkeit, mit der der Autor ein Paradigma der späten DDR herausarbeitet: Die ungeheure Mühe, die es der Vätergeneration gekostet hat, das sozialistische Modell auf die Beine zu stellen; und die unausgesprochene Scham vor den Jüngeren, weil offensichtlich ist, dass das ganze Konzept kurz vor dem Scheitern steht.
Ein immer wiederkehrendes Motiv in „Der goldene Löffel“ ist die brüchige Selbstgefälligkeit der Älteren, ihr Nachdruck, mit der sie ständig ihren Erfahrungs- und Wissensvorsprung vor dem jugendlichen Ich-Erzähler zum Besten geben. In Wahrheit – und das durchschaut Noll klug – entrollt sich da eher ein absurdes Abhängigkeitsverhältnis, weil nach Außen hin die DDR sich als Staat der Arbeiter und Bauern präsentiert, im Innern jedoch dynastisch gegliedert ist. Besonders deutlich zeigt sich dieses Verhältnis der verschobenen Kräfte in den Gesprächen, die Adam mit dem Kunstprofessor Knoch führt - der vielleicht am stärksten ausgeleuchteten Figur im Roman. Man verfolgt mit Unbehagen seine Monologe.
Doch man ist wie Adam einem berlinernden Besserwisser voller Ressentiments ausgesetzt, der nicht aufhören kann, darauf hinzuweisen, wie er als unterprivilegiertes Arbeiterkind sich hat hocharbeiten müssen – und der dabei nicht vergisst, den Ich-Erzähler daran zu erinnern, dass den jungen Burschen heute alles in den Schoß gelegt wird. Adam ist in den Augen der Älteren ein Kronprinz. In seiner Perspektive hat diese Rolle aber etwas Pervertiertes. Er ist ein Hamlet, dem sogar kurzfristig Rebellion zugestanden wird, der dann allmählich die immer stärker werdenden institutionellen Kastrationskräfte zu spüren bekommt. Diese komplexen Vorgänge schildert Noll mit einem schwarzen Charme. Und er hält sich mit Deutungen zurück, was zur Folge hat, dass die sparsam dosierten Beschreibungen die verrosteten Herrschaftsverhältnisse viel schärfer einfangen als lange Erklärungen oder komplizierte Introspektiven.
Das sind einige Gründe, warum dieser zwanzig Jahre alte Roman heute noch so gut funktioniert. Aber da sind noch ein paar mehr. Zum einen begreift der Autor den Werdegang seiner Hauptfigur als Negativ eines Bildungsromans. Das Schauspiel vom Weg des jungen Menschen ins soziale Zentrum oder Abseits kann in einer Gesellschaft, die mehrheitlich keinen positiven Bezug zum eigenen Land findet, nicht stattfinden. Wo alles stagniert, lebt es sich wie in einer Fotografie.
Zum anderen verfügt Noll im Gegensatz zu Uwe Tellkamp oder Ingo Schulze über ein sicheres dramaturgisches Gespür. Statt literarischer Abarbeitung, die achthundert Seiten in Anspruch nimmt, hat man hier ein vor allem lesenswertes Buch vor sich, dem es gelingt, mehrere Aspekte des Dramas DDR darzustellen.

Chaim Noll: Der goldene Löffel. Roman. 246 Seiten. Verbrecher Verlag. Berlin 2009. 13 €

Dienstag, 14. April 2009

Philipp Blom: Der taumelnde Kontinent

Von Manuel Karasek
Es liegt nahe, dass ein Buch, welches sich mit der unmittelbaren Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges beschäftigt, momentan Interesse weckt. Das hundertjährige Gedenken an die 'Mutter aller Katastrophen im 20. Jahrhundert' - wie Golo Mann einst den Krieg charakterisierte - liegt lediglich fünf Jahre vor uns. Philipp Blom - der in den letzten Jahren nicht allein als Historiker hervortrat, sondern ebenfalls als Verfasser fiktiver Werke - nennt sein jetzt auf Deutsch erschienenes Buch "Der taumelnde Kontinent", was schon ein wundervoller und dramatischer Titel ist, der allerdings ein wenig in die Irre führt.
Denn Blom, 1970 geboren, beschreibt die einzelnen 15 Jahre Vorkriegszeit - weswegen das Buch auch den Untertitel "Europa 1900-1914" trägt - nicht im Zeichen des Menetekel, sucht für seine Darstellung nicht die tragisch-attische Bühnenordnung. Er geht subtiler vor, entsprechend erscheint seine Methode. Die knapp 500 Seiten bieten 15 Kapitel - jedes davon widmet sich einem Jahr und einem Themenschwerpunkt. Das Eingangskapitel, das das Jahr 1900 thematisiert, widmet sich beispielsweise der Weltausstellung in Paris; und ist eine schöne Schilderung einer hegemonialen, vorwiegend europäischen Selbstdarstellung. Blom steht herrliches Material zur Verfügung, um die demonstrierte imperiale Prachtentfaltung zu beschreiben; und auch sein Befund hat etwas überzeugend Klares, wenn er die tiefen Unsicherheitsgefühle der Zeit umreißt als ein Ergebnis der enormen Geschwindigkeit in der industriellen Entwicklung und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen.
Mehrheitlich ist Bloms "Der taumelnde Kontinent" ein interessantes und anziehendes Porträt einer Epoche; jedoch hat das Buch auch seine Schwächen. Gerade letzteres ist ein Nebenprodukt der Methode. 1908 - so beginnt beispielsweise Kapitel 9 - gab es in London eine Demonstration mit einer halben Million Teilnehmer, die das Wahlrecht für Frauen forderten. Eine ausführliche Erzählung der frühen Frauenrechtbewegung folgt. Wieder setzt Philipp Blom sein reiches Material klug und geschickt ein, das selbst Gutinformierte überraschen wird. Wieder ist da eine vorwiegend narrativ-lineare Struktur zu erkennen, die die Geschichte der Suffragetten, wie die Frauenrechtlerinnen genannt wurden, gewinnend zu erzählen weiß. Doch gerade der lineare Verlauf gerät ein wenig in den Zustand einer trägen Masse. Es ist das Problem der zwingenden Abfolge, welches Blom erzählerisch nicht lösen kann. Das historische Material ist unbestritten attraktiv, aber auch riskant. Muss man, um ein anderes Beispiel zu nennen, die Geschichte der Marie Curie oder die Erfolgsstory Albert Einsteins, so interessant beide Lebensläufe auch sind, noch einmal derart entlang des Biographischen erzählt bekommen? Letztendlich unterwandert das Abzählen der Ereignisse gerade den Erzählprozess. Und das Absurde dabei ist: Blom unternimmt alles, um nicht in die Falle des chronologischen Erzählens hineinzugeraten. Der Autor kriegt nur manchmal sein reiches Material nicht anders in den Griff, als sich mit Redundanzen auszuhelfen.
Woran liegt das? Bloms Buch fehlt es nicht an einer Idee. Aber es fehlt ihm die Obsession, die von einer Idee ausgeht. Warum eine eigentlich hoch entwickelte Gesellschaft sich fast nur noch durch ein bis dahin ungekanntes Ausmaß an barbarischer Gewalt Ausdruck verschaffen konnte, ist ja nicht bloße Rhetorik, sondern die Nahtstelle auf einer alten Wunde, aus der der Schlangenkopf unseres ambivalenten Zivilisationsprozesses stets hervorzukriechen scheint. Wie weiß das Blom zu interpretieren?
Er entscheidet sich für folgende Leseart. Jedes Kapitel betont den Werteverlust in einer männerorientierten Gesellschaft, die aus dem patriarchalischen Geist entstanden war. Die Industrialiserung hat das männliche Rollenverständnis unterwandert, so Blom weiter, die Maschinen ersetzen die traditionellen Eigenschaften der Manneskraft, ja degradieren sie zu bloßen Muskelspielereien. Die starke Militarisierung der Gesellschaften ist dabei Ausdruck einer kollektiven Unsicherheit. Das ist eine ganz gute, nonchalant vorgetragene These, aber sie ist nicht ganz neu. So ist Bloms Buch zwar gut lesbar, aber es fehlt ihm von Zeit zu Zeit das Bezwingende.
Ein anderes Beispiel unterstreicht das Dilemma eines lesenswerten Textes. Blom beschreibt anschaulich und unterhaltsam, wie Kunstwerke von Picasso oder die Uraufführung von Strawinskys "Le Sacre du Printemps" heute schwer nachzuvollziehende Publikumsaufstände ausgelöst hatten - und deutet die Empörung als Ausdruck einer tiefen Unsicherheit, in der man den Fortschritt schon haben wollte, die Veränderungen, die dieser mit sich brachte, jedoch ablehnte. Gerade an der Kunstrezeption ließ sich dann die Problematik einer sich immer weiter der Technik verschreibenden Gesellschaft gut ablesen. Es gab eine Unauflösbarkeit der soziokulturellen Problemkomplexe und somit keine produktiven Annäherungen zwischen den einzelnen Positionen, die den technischen Fortschritt und die Forderungen einzelner Gruppen (Arbeiter, Frauen) vertraten. Das zeigt ja, dass es durchaus vorteilhaft gewesen wäre, wenn Blom mehr Deutungsmuster gesucht hätte, statt sich immer auf das Narrative zu verlassen.

Philipp Blom: Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914. 530 Seiten. 25,90 Euro.

Mittwoch, 18. März 2009

Michel Foucault: Schriften zur Literatur

Von Manuel Karasek

Ende der Achtziger erscheint das erste Mal auf Deutsch Michel Foucaults Essays über Literatur in einem Band, die dieser in den Sechziger Jahren geschrieben hat. In den Aufsätzen beschäftigt er sich erneut mit dem Phänomen des Verständnis’ von Wahnsinn unter Bezugnahme gesellschaftlicher Veränderungen und historischer Prozesse. Im Gegensatz zu seiner Arbeit „Wahnsinn und Gesellschaft“, die 1961 bei „Gallimard“ publiziert und mit der sein Verfasser bekannt wurde, rückt für Foucault in den folgenden Jahren eher die Perspektive prominenter Vertreter und ihr Übergang in die unendlichen Gefilde des Irrsinns in den Mittelpunkt.
Zwei berühmte Fälle erscheinen ihm da beispielhaft zu sein. Zum einen der Fall Rousseaus, dessen „Dialogues“, etwa nach den „Bekenntnissen“ 1770 geschrieben, überwiegend als das wirre Ergebnis eines von Verfolgungswahn gepeinigten Autors gedeutet wird – dagegen Foucault darin, ohne den pathologischen Anteil in Rousseaus Arbeit gänzlich zu leugnen, eher „die Struktur großer theoretischer Texte“ ausmacht: einen frühen und kühnen ontologisch-heideggerischen Entwurf zur Vorstellung und Begrifflichkeit von Existenz und Inexistenz. Und zum anderen den Fall Nietzsches, dessen Spätwerk – z. B. der 1888 geschriebene „Ecce Homo“ – Foucault nicht ausschließlich als Indiz der geistigen Zerrüttung des Philosophen gilt, sondern mehr als konsequente Umsetzung eines Denkens gelesen werden sollte, das seine eigene Grenze stets vorschiebt und dabei mit der Hypothese einer ‚Grenzüberschreitung’ in der Figur des ‚Undenkbaren’ spielt.
Was bei diesen Plädoyers für jene ‚Außenseiter’ schließlich ins Auge sticht, ist, dass Michel Foucault durch die gnostisch anmutende Auslegung der Texte den Umriss einer doktrinären Exegese entwirft. Aus seiner Sicht hat es immer einen philosophischen Mainstream gegeben, der dazu neigte, Rousseaus und Nietzsches letzte Arbeiten als deutliches Indiz für ihren Übertritt in ein Schattenreich zu interpretieren. Foucault begreift diese Deutungsmuster als diskriminierenden Beschreibungsversuch, als Negation von späten Theorieentwürfen. Natürlich steckt in seiner Methode ein unübersehbarer Anteil an Polemik, denn es wird ja nie auch nur ein Name eines der Vertreter des angeblich doktrinären Diskurses genannt.
Das endgültig geistige Aus jener Akteure – und die nachträgliche Belichtung, die beide Fälle als eine ins Frevlerische hineinreichende intellektuelle Unangepasstheit wertet und so zu dem Ergebnis gelangt, dass Rousseau und Nietzsche für ihre maßlos geistige ‚Entgrenztheit’ mit dem Irrsinn bezahlen mussten – diese bühnenwürdigen Abgänge sind für Foucault vielmehr interessant unter dem Aspekt der Annahme. Die Diagnose über jene ‚Endzustände’ wird dann als das Ergebnis einer eingeschränkten, ja oberflächlichen Sichtweise gewertet.
Interessant daran, ist schließlich aber gar nicht mal der herausdestillierte Herrschaftsbegriff in der kulturellen Produktion des 19. Jahrhunderts, den Michel Foucault in den 60ern analysierte. Interessant in dem Zusammenhang ist eher, dass etwa im selben Zeitraum die ersten Romane und Erzählungen Thomas Bernhards (Frost, Verstörung, Wittgensteins Neffe, Das Kalkwerk) im deutschen Sprachraum erscheinen – und diese erzählen Geschichten, die um den Wahnsinn kreisen, im Mittelpunkt stehen Figuren mit ausgeprägten Störungen. Anders gesagt: Ohne voneinander zu wissen, behandeln beide auf unterschiedliche Art den alten Widerspruch zwischen der individuellen Wunschproduktion als Hybris und den gesellschaftlichen Postulaten als Gewalt und Gesetz. Neu an der Darstellung der prinzipiellen Zweiteilung - hier die Anarchie des Individuums, dort das pluralistische Ordnungsprinzip – ist der Umstand, dass ihre kritischen, bewusst solitären Positionen der Werteordnung der Nachkriegszeit gegenübergestellt sind. Diese - so implizieren beide - trägt, wenn auch verwandelt, die Züge des 19. Jahrhunderts.
Der eine behandelt diese Verklammerung fiktiv, der andere theoretisch. Die Verklammerung ist dabei gleichzeitig die Verschränkung einer Frage und ihrer Antwort, die ein Unbehagen umreißt. Im Jargon der Sechziger Jahre würde die Frage nämlich lauten: Könnte es sein, dass die Rolle des Intellektuellen (oder des Künstlers) – sieht man einmal von denjenigen ab, die ihre Rolle in der Gesellschaft gefunden haben - als solches per se in die Nähe eines pathologischen Zustands gerückt wird? Andersrum gefragt: Könnte es sein, dass Desinteresse als Reaktion auf die künstlerisch-intellektuelle Arbeit einen Graben erzeugt, dessen gähnender Schlund die geistigen Energien nutzlos verschlingt – und mit ihnen die stets prekäre Verfassung der Vernunft?
Foucaults Essays über die Literatur haben jedenfalls mit Thomas Bernhards frühem Werk gemeinsam, dass beide abseits des Bekanntheitsgrades (sie waren zu dem Zeitpunkt noch nicht berühmt) den notorischen Verdacht mit sich schleppen, zwar in Augen anderer durchaus als das zu gelten, was man im eigenen Blick zu sein meint, dass dies aber mit einer Marginalisierung versehen ist. Dabei greifen jeweils der französische Denker sowie der österreichische Autor - unabhängig voneinander und auf unterschiedliche Weise – auf eine Annahme zurück. Sie erklären, dass die europäischen Gesellschaften ihre repressiven Methoden und Systeme des 19. Jahrhunderts nicht abgelegt, sondern lediglich transformiert hätten, wobei es ihnen nicht um eine Beweisführung denn mehr um eine Darlegung des Wahrscheinlichen geht.
Ihr Verdacht erklärt sich auch aus ihrer Biographie. Hinlänglich bekannt die Homosexualität Foucaults, seine offensichtliche Neigung zu Sadismus, aber ebenfalls der weniger der Yellow Press zugehörige Teil: seine inzwischen berühmten Entwürfe von Diskursen, die sich keiner Schule (etwa den Strukturalisten) unterordnen wollten. Ein Gespür dafür, dass er als Figur im Blick der Mehrheit sich in einer zwielichtigen Randzone aufhielt, hatte er sicherlich. Ebenso wie Thomas Bernhard, wenn auch unter anderen Prämissen, der unter einer schweren Lungenerkrankung litt, die seiner Karriere als Opernsänger ein abruptes Ende bereitete. Beide waren in etwa gleich alt (Foucault 1926, Bernhard 1931 geboren), gehörten zu jener Generation, die den Zweiten Weltkrieg als Jugendliche erlebten – und dessen erste Aufarbeitung mit der Demaskierung des Stalinismus und den Frankfurter Auschwitzprozessen mit ihrem geistigen Reifungsprozess zusammenfiel. Beide erlebten den zweiten großen industriellen Aufschwung in Europa, in seinen Dimensionen weit umfänglicher als derjenige vor den zwei autodestruktiven Weltkriegen. Und beide zogen aus diesem Umstand einen ähnlichen Schluss.
In den Romanen „Frost“ und „Verstörung“ beispielsweise zeichnet Bernhard eine österreichische Welt der Provinz, die trotz der Kriege und der nachfolgenden Umwandlungsprozesse das alte nationale Gesicht in ihren Institutionen und in der Mentalität trägt, nur ohne Kaiser und Reich. Das Land ist geschrumpft zu einer obskuren Zone am Rande von Europas Westen, und mit ihr sind die Einwohner zusammengefallen in ihre kleinstmögliche Einheit. Angestellte und Bauern, zufrieden mit ihrem jetzt gottlob kleinen Los, bilden das soziale Ensemble. Nachdem der Spuk des politischen Größenwahns an ihnen vorbeigezogen ist, befindet sich Österreich nun auch nicht mehr unter Beobachtung – und dreht sich in der Perspektive Bernhards in die Richtung einer gewünschten Vergangenheit, in der es ewig verharren möchte.
Michel Foucault behandelt in den Essays über die Literatur gerade französische Autoren wie Maurice Blanchot, George Bataille, Klossowski (der unter anderem Hölderlin ins Französische übertrug), die einige Gemeinsamkeiten aufzuweisen haben. Sie alle thematisierten auf unterschiedliche Art den Wahnsinn als allerletzte Ausdrucksmöglichkeit – in der neben dem finalen Charakter, die der Irrsinn enthält, sich auch der Beginn einer neuen Grenze auftut, ein Denken, das neu fixiert und normiert – und wieder sich selbst verwirft, erneuert usw. usf. Sie alle waren mehr oder weniger ‚Entdecker’ oder ‚Wiederentdecker’ von Nietzsches Werk im französischen Sprachraum. Sie alle waren Außenseiter und im weitesten Sinne Theoretiker – und sie alle deuteten in ihren Texten den Schatten, den das 19. Jahrhundert überproduktiv in das 20. warf.
Auch in anderer Hinsicht war jener Schatten lang, länger als selbst Foucault vielleicht gedacht hatte, der 1984 an Aids verstarb. In dem letzten Essay des Bandes verweist Foucault auf eine Arbeitsmethode Gustave Flauberts. Seine These lautet, dass das Kompositionsverfahren Flauberts sich nicht ausschließlich aus seinem Innenleben gespeist, sondern mehr aus dem Geiste der Kompilationen ihre Ergebnisse gezogen habe. Beispielsweise enthalte „Die Versuchung des heiligen Antonius“ Wort für Wort, Zeile für Zeile Auszüge aus historischen Quellen oder Traktaten seiner Zeit, was nicht heißt, Flaubert hätte einfach alles abgeschrieben. Das war nicht der Fall gewesen. Aber Flaubert arbeitete an jeder Szene akribisch, präziser formuliert: Für fast jedes Detail recherchierte er ausgiebig in Bibliotheken. Seine Besessenheit diesbezüglich begriff er auch als Entsprechung einer Inbesitznahme von Inhalten aus dem Medium Buch. Seine eigenen Bücher seien, so schließt Foucault, auch eine Reaktion auf die überwältigende Stofffülle, die das Medium Buch enthält. Zugespitzt formuliert: Flaubert war der ‚Entdecker’ einer wegweisenden Kompilations-Methode.
Als im letzten Jahr Jonathan Littells Roman „Die Wohlgesinnten“ auf Deutsch erschien, verwies der Autor bezüglich seiner Arbeit gerade auf Gustave Flaubert. Das klang einigermaßen affektiert. Wenn man aber seinen Holocaust-Roman gelesen hat, weiß man, dass dieser aus dem Geist der Kompilation heraus geschrieben wurde – und gelungen ist.

Michel Foucault: Schriften zur Literatur. Aus dem Französischem von Karin von Hofer und Anneliese Botond. 177 Seiten. Frankfurt am Main, S. Fischer 1988.
Eine viel umfänglichere Sammlung in einer späteren Übersetzung ist unter demselben Titel bei Suhrkamp erschienen. 450 Seiten. 14, 50 Euro. Das hier besprochene Taschenbuch der Reihe „Fischer-Wissenschaft“ ist nur antiquarisch erhältlich.