Donnerstag, 5. November 2009

Dietmar Dath: Sämmtliche Gedichte

Von Manuel Karasek
In den letzten Jahren wurde kein deutschsprachiger Autor so gründlich missverstanden wie Dietmar Dath – wobei das Missverstehen die Eigenschaft hatte, in zwei unterschiedliche Richtungen auszuschlagen. In die kritischen Reaktionen mischte sich entweder schlechte Laune u. a. wegen der eigenwilligen, beinahe hybriden Auffassung von Prosa, die sich in den Texten von Dath manifestiert. Oder das Weltbild des Autors mit seinem eigenbrötlerisch wirkenden Marxismus befremdete. Man kann dieses Missverstehen dann aber auch über eine Dialektik zu fassen kriegen, die sich von seinen zahlreichen Romanen und Essays ableiten lässt. Vereinfacht ausgedrückt: Dath möchte missverstanden werden. Und genauso ist er ein Denker mit deutlichem Hang zur Pointierung, was wiederum heißt, dass es hier nichts misszuverstehen gibt.
Es passt dann eben auch, dass Dietmar Dath in seinem neuen Buch als Nebenfigur auftaucht – als Berater und Medienspezialist eines märchenhaft reichen Mannes, der Colin Kreuzer heißt und schon in einem anderen Roman Daths eine tragende Rolle spielte. Dass gerade die Hauptfigur Adam Sladek, ein Dichter, das Werk Daths schließlich gering schätzt, wäre in einer Ironie freien Lesart der gebrochene Kommentar zur Kritik. Aber selbst die Ironie kommt viel feiner daher als man zuerst annimmt. „Sämmtliche Gedichte“ heißt der 280 Seiten lange Roman, wobei das neutral wirkende Eigenschaftswort absichtlich mit einem „m“ mehr versehen wurde.
So schrieb man den Begriff im 18. Jahrhundert, erinnert Dath einmal den Lyriker Sladek, der eine Einladung des mysteriös-düsteren Moguls Kreuzer angenommen hat; und nun ein großzügiges Angebot erhält: Ein Buch mit seinen Gedichten soll unter diesem Titel publiziert werden, zusätzlich erhält der Verfasser ein größenwahnsinniges Honorar. Was auffällt dabei: Sobald Dath seinen Auftritt hat, nimmt man Adam Sladek stärker wahr. Das hat letztendlich mit den gegensätzlichen Persönlichkeiten zu tun: Dath ist kompliziert und verschwurbelt, Sladek klar und präzise. Der eine hat einen pessimistischen Zug, wenn es um einen Zukunftsentwurf geht, der andere verfügt über ein emphatisches Utopieverständnis. Der eine steht im Schatten, der andere im Lichtkegel der Scheinwerfer.
Auf der Oberfläche einer reinen Handlung geht es in Dietmar Daths Roman um einen Mann, zu dessen Selbstverständnis größtmögliche Unabhängigkeit im Geistigen gehört, der sich weder den Massen noch den Eliten zugehörig fühlt; und der von einer Gestalt, dessen Umrisse klar die Konturen der James-Bond-Gegenspieler aufweisen, ein unmoralisches Angebot erhält. Was gleich bedeutend ist mit einer Gefährdung jener Unabhängigkeit.
Unter dieser Ebene beschäftigt sich Dath jedoch vor allem mit klassischen Formaten antiker Lyrik – und verfasst diese über seinen „Stellvertreter“ Sladek. Die klingen dann beispielsweise so: „Ich danke dir, die du kretische Amnisos-Ebene/ die du den Diktynna-Berge umschreitest.“ Oder ein anderes Beispiel geht schließlich so: „Als Aphrodite bin ich, was den kühnen Traum/ Von Zauber angeht, den ich, wo ich gehe/ Um mich verbreite, so wie Duft im Raum/ Leicht schwebt und gaukelt.“
Das muss den einen oder anderen erstmal vollkommen erstaunen. Warum in Gottes Namen brauchen wir denn jetzt die Anrufung der alten Götter? Das war doch eher Schillers Spezialität – und die hat die Gebrüder Schlegel manchmal zu Lachanfällen bewegt. Hier ist das aber anders. Diese Gedichte sind – vor allem wenn man sich allmählich eingelesen hat - tatsächlich beeindruckend in ihrer Schönheit, weil unter anderem durch sie ein Grundgedanke lyrischer Konzeption durchscheint.
Denn die Zugriffe auf die polytheistische Welt von Apollo und Artemis begreift Sladek nicht als poetische Leerformel, die dann auf Hölderlin und Ovid zurück verweisen, sondern als klare, präzise utopische Formeln einer freien und unabhängigen Lebensgestaltung. Seine Verse sind also indirekt soziopolitisch determiniert, das Anliegen jedoch von keinerlei idealistischer Programmatik verbogen. Bestechend daran ist eben auch, dass über Sladeks Lyrik der Charakter beispielsweise der vorwiegend idealistischen Poesie des ausgehenden 18. Jahrhunderts sichtbar wird – ohne dass hier hohle pathetische Gesten erneut zelebriert werden.
Dath behandelt über die poetische Rekonstruktion des Antiken im Lichte der Jetzt-Zeit letztendlich die alte, prekäre Frage nach dem übergreifenden Sinn ästhetischer Konzepte. Das alles hat schließlich auch einen polemischen Anteil. Wenn - so impliziert der Text - ein so steinreicher Mann wie Colin Kreuzer nach Belieben alles einkaufen kann, was ihm in dem Sinn kommt, dann muss das erworbene poetische Produkt von Adam Sladek unter dem Druck einer scharfen Instrumentalisierung geraten – und so der konstitutionell wirkende Unabhängigkeitsanteil daran fragwürdig werden.
Unter belletristischen, konservativen Gesichtspunkten ist „Sämmtliche Gedichte“ natürlich ein sperriges Werk. Was soll man anderes sagen? Seine Spannung bezieht es jedoch über die Dreieckskonfrontation Dath, Sladek und Kreuzer. Wobei man dann wieder beim scheinbaren Nichtbegreifenkönnen des Werkes von Dath wäre. Und der Dialektik.Und der Unauflösbarkeit davon.

Dietmar Dath: Sämmtliche Gedichte. Roman. Suhrkamp 2009. 284 Seiten. 22,80 Euro